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Nur Kratzer und blaue Flecken

Von Katrin Löwe 11.10.2012, 18:09

Magdeburg/MZ. - Er hatte Kratzer am Arm und Unterblutungen - offenbar einen großen blauen Fleck - auf dem linken Oberschenkel. Titus S., der Güterzuglokführer, der im Januar vergangenen Jahres das schwere Zugunglück von Hordorf (Börde) mit zehn Toten verursacht haben soll, kam bei der Katastrophe körperlich glimpflich davon.

Nach Angaben einer Rechtsmedizinerin lässt das allerdings nicht automatisch den Rückschluss zu, dass er sich auf der hinteren der beiden Loks befunden haben muss, die den Güterzug zogen. S. habe deutlich erhöht gesessen und nach vorn aufgrund des Aufbaus der Lok noch reichlich Stauchungszone gehabt, sagte sie am dritten Prozesstag vor dem Magdeburger Landgericht. Damit sei nicht auszuschließen, dass er auf der ersten Lok gewesen sei und trotzdem kaum verletzt wurde. Wie wahrscheinlich das ist, könne sie nicht sagen. Tatsache indes ist: Untersuchungen auf Rückstände von Alkohol, Drogen oder Medikamenten verliefen bei S. alle negativ.

Die Medizinerin soll nun noch einmal befragt werden, nachdem Verkehrsexperten ihre Aussagen gemacht haben und sie sich selbst die Unglückslok angesehen hat. Der ursprünglich auf fünf Verhandlungstage bis Mitte nächster Woche angesetzte Prozess verlängert sich bereits bis mindestens zum 21. November. Titus S. ist wegen fahrlässiger Tötung in zehn und fahrlässiger Körperverletzung in 22 Fällen angeklagt. Er soll am 29. Januar 2011 zwei Haltesignale nicht beachtet und so den Frontalzusammenstoß mit einer Regionalbahn des Harz-Elbe-Express auf einem eingleisigen Abschnitt der Bahnstrecke verursacht haben.

Auf welcher Lok er sich dabei befand, war gestern die zentrale Frage. Ein anderer Lokführer und ein Elektrotechnik-Ingenieur von der Herstellerfirma der Loks erklärten, es mache keinerlei Sinn, den Zug von der zweiten Lok zu fahren - der mit deutlich eingeschränkter Sicht. Zudem erkannte letzterer aufgrund von Fotos, dass die Schalter auf den Loks so eingestellt waren, dass die erste auch die technisch führende Lok war, von der aus der Zug bedient wird. Experten der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes waren in ihrem Bericht vom September 2011 ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass S. sich ganz vorn befand und von dort aus - wenn auch zu spät - gebremst hat. Für die Verteidigung ist jede andere Variante aufgrund der in den Prozessakten stehenden Untersuchungsergebnisse "lange vom Tisch" - für mehrere Nebenklage-Anwälte noch nicht. Ein Zeuge soll S. angeblich auf der zweiten Lok gesehen haben.

Der Prozess wird kommende Woche fortgesetzt. Dann sollen auch die Handydaten des Angeklagten ausgewertet werden, um zu klären, ob er zum Unglückszeitpunkt durch ein privates Telefonat abgelenkt gewesen sein kann. Eine Rolle wird zudem noch spielen, ob er angesichts des Nebels zu schnell fuhr, um die Signale erkennen zu können. Auf der Strecke gab es damals noch keine Anlage, die beim Überfahren eines Haltesignals automatisch eine Zwangsbremsung auslöst. Ohne diese Technik fahre er "doppelt aufmerksam", sagte ein anderer Lokführer aus.

Fotos, Videos, Hintergründe unter www.mz-web.de/hordorf