Nationalsozialismus Nationalsozialismus: Ein vergessener Leidensort
ALTENGRABOW/MZ. - Die betagten Besucher waren an den Ort am Rande des kleinen Dorfes Dörnitz (Jerichower Land) gekommen, um ein leidvolles Kapitel ihrer Biographie aufzuarbeiten: Zur Zeit des Nationalsozialismus hatte man sie als Kriegsgefangene in das Lager nach Altengrabow gebracht. "Sie erzählten, wie sie abgebrannte Streichhölzer aufgesammelt, weggeworfen und wieder aufgesammelt haben - um sich zu beschäftigen", sagt der Hobbyhistoriker, der bei der Erforschung der mehr als hundertjährigen Geschichte des Truppenübungsplatzes auch auf das ehemalige Kriegsgefangenenlager "Stalag XI A" an dem Standort gestoßen war. Immer wieder melden sich auch heute noch Menschen bei ihm, die mehr darüber erfahren wollen. Meist sind es Hinterbliebene der Gefangenen. Die Zahl der damals Überlebenden sinkt von Jahr zu Jahr.
60 000 Häftlinge befreit
Es ist verwunderlich, wie wenig die Öffentlichkeit bislang über jenes Lager weiß, das laut Historiker Mathias Tullner von der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg "ein Schwergewicht" unter den Kriegsgefangenenlagern ist. Zwar gibt es keine genauen Zahlen, doch er geht davon aus, dass hunderttausende Menschen unter fürchterlichen Bedingungen von 1939 bis 1945 in Altengrabow festgehalten wurden. Denn als amerikanische Truppen das Lager im Frühjahr 1945 auflösten, waren dort etwa 60 000 Häftlinge untergebracht. Bislang wies lediglich ein Findling auf das Schicksal der Gefangenen hin. Kommenden Dienstag - siebzig Jahre nach Kriegsbeginn - wird nun vor dem Truppenübungsplatz ein Mahnmal für die Opfer des Lagers eingeweiht (siehe "Erinnerung an die...").
Aufarbeitung der Geschichte
Eine Tatsache, die Christel Kitschke, ehemalige Bürgermeisterin von Dörnitz, "überglücklich" macht. "Wir wollten etwas Einmaliges und Dauerhaftes schaffen", sagt die Vorsitzende des Fördervereins "Gedenkstätte Kriegsgefangenenlager und Sammlung Truppenübungsplatz Altengrabow". Er setzt sich seit drei Jahren dafür ein, dass die Geschichte des Lagers aufgearbeitet wird und ein Ort des Gedenkens entsteht. In dem Verein engagieren sich auch einige Mitglieder des Magdeburger Landtags.
Irgendwo auf dem 10 000 Hektar großen Gelände des heutigen Truppenübungsplatzes müssen sich noch die Gebeine tausender Lagerinsassen befinden, die hier verscharrt wurden. Die Rote Armee hatte bereits 1947 die sterblichen Überreste von russischen Gefangenen aus zwei Massengräbern exhumiert. 1994, als die Bundeswehr das Areal übernahm, wurden auf Wunsch des italienischen Verteidigungsministeriums die sterblichen Überreste von 260 italienischen Opfern ausgegraben, die mit Hilfe von Zeitzeugenberichten ausfindig gemacht werden konnten. Doch in dem Lager wurden Fremdarbeiter aus ganz Europa gefangen gehalten - darunter auch Franzosen, Engländer, Polen und Belgier. "In dem Straflager wurden die Gefangenen gesammelt und auf verschiedene Außenlager und Arbeitsorte verteilt", erklärt Tullner. Viele der Insassen starben infolge der katastrophalen hygienischen Bedingungen, an Unterernährung oder den Strapazen der unmenschlich harten Arbeit. Auch Erschießungen soll es gegeben haben.
Das nun entstandene Mahnmal aus Spezialbeton hat die Form eines großen, sich aufrollenden Blattes. "Es sieht aus wie ein Stück Papier, das aufgeblättert wird - man schaut in die Vergangenheit", so Kitschke. Der Entwurf stammt von dem Künstler Michael Krenz, Absolvent der halleschen Kunsthochschule "Burg Giebichenstein". Verschiedene Materialschichten sollen die historischen Phasen des Ortes symbolisieren. Schließlich war hier bereits zur Zeit des Ersten Weltkrieges ein Gefangenenlager eingerichtet worden, in dem bis zum Jahr 1918 mehr als 12 000 Menschen eingesperrt wurden. Die nahe gelegenen Gleise, die längst nicht mehr genutzt werden, erinnern noch heute an die Gefangenentransporte.
Gedenkstätte soll entstehen
Längerfristig planen die Vereinsmitglieder die Einrichtung einer Gedenkstätte, in der eine Ausstellung über das Lager informieren soll. "Es geht auch darum, Jugendliche über das, was gewesen ist, aufzuklären und ihnen Denkanstöße zu geben - damit so etwas nie wieder passiert", sagt Hauptmann Klaus Kempka, der zugleich Leiter des Truppenübungsplatzes und stellvertretender Vorsitzender des Vereins ist. Dafür bedarf es allerdings nicht nur passender Räume, sondern auch weiterer Recherchearbeit. "Es gibt da eine wesentliche Forschungslücke", sagt Mathias Tullner. Zwar haben sich bereits einige Freizeitforscher und Projektgruppen mit der Thematik befasst, doch eine umfassende, wissenschaftlich fundierte Dokumentation über das Lager fehle bislang. Deshalb plant der Professor für Landesgeschichte ein Forschungsprojekt zu dem Thema.
Dass auch kleine Begebenheiten viel über das fast vergessene Lager in Altengrabow preisgeben, beweist der Tagebucheintrag eines holländischen Gefangenen, der im April 1944 schrieb: "Ich probiere meinen Rasierpinsel zu verkaufen, für einen Apfel." Ob er damit erfolgreich war, hat er nicht notiert.