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Nach langwierigem Kampf Nach langwierigem Kampf: Henriette darf in die Grundschule Angern gehen

Von Katrin Löwe 28.08.2015, 19:17

Angern - Henriette ist sechs, ein kleines Mädchen mit blonden Haaren und entzückender Zahnlücke, das sich vor allem auf eines freut: „Auf die Schultüte“, sagt sie. Na ja, und darauf, dass sie wohl neben ihrer besten Freundin Mariella sitzen wird, wenn der Unterricht losgeht. So erfrischend einfach ist das für eine Sechsjährige. Dass es alles andere als selbstverständlich ist, in diesem fröhlich gelben Schulbau in Angern (Börde), nur einen Katzensprung entfernt vom Elternhaus das ABC zu lernen, spielt in ihrer Gedankenwelt noch keine Rolle.

In der ihrer Eltern schon. Denn das Szenario schien lange Zeit real: Eine halbe Stunde Fahrtweg mit dem Schulbus hätte Henriette morgens zur nächsten Grundschule in einem der Nachbarorte in Kauf nehmen müssen, nachmittags bis zu eine Stunde. „Da bleibt für vieles keine Zeit mehr“, sagt Vater Denny Eichstädt. „Das ist Stress für die Kinder.“ Stress, der auch Henriette geblüht hätte. Das Aus der kleinen Dorfschule in Angern war längst besiegelt. Trotz eines Proteststurms aus dem Dorf, trotz eines Bürgerentscheides in der Verbandsgemeinde im Jahr 2013 - der Ort verlor. Er konnte zum damaligen Zeitpunkt nicht die geforderten Schülerzahlen aufbringen. Und die Entscheidung fiel zugunsten der Schule im benachbarten Burgstall. Im Herbst 2014 wurden die Erstklässler aus Angern schon dort eingeschult. 54 Grundschulen hat seit 2011 das gleiche Schicksal ereilt: Sie mussten schließen. 31 waren es allein 2014, nachdem das Land die Vorgaben für Mindestschülerzahlen verschärft hat.

Nie aufgegeben

In Angern hätte man nun aufgeben können. Die Einschulung in Burgstall war ein Fix-Punkt, an dem viele das wahrscheinlich getan hätten. Noch dazu: Der Versuch, eine freie Schule zu gründen, war kurz zuvor gescheitert. „Für das Kultusministerium hat sich unser Konzept nicht genug von den staatlichen Schulen abgehoben“, sagt Ortrun Horstmann, Landwirtin und Vorsitzende des Schulfördervereins.

Aufgeben war für die Angeraner dennoch keine Option. Das Dorf mit seinen fünf Ortsteilen, im Kern rund 1.300 Einwohner groß, stemmt sich gegen die demografische Entwicklung. Acht junge Familien haben zuletzt gebaut. „Und wenn hier eine Wohnung frei wird, stehen gleich drei, vier neue Bewerber auf der Matte“, sagt Ortsbürgermeister Egbert Fitsch (parteilos). 20 Prozent der Bewohner, schätzt er, haben schulpflichtige Kinder. Ob das so geblieben wäre? Ohne Schule? Ob Angern weiter junge Menschen angezogen, ein Dorfleben mit all der Infrastruktur gehabt hätte, die noch da ist? Lebensmittelladen, Gaststätte, Apotheke, Rettungsstation, Kindergarten - all das ist längst nicht mehr selbstverständlich auf dem Land.

Auch Angern fürchtete darum. Und wagte einen neuen Anlauf: Der Schulförderverein, mit über 150 Mitgliedern zweitgrößter im Ort nach den Sportlern, stellte Ende 2014 einen zweiten Antrag beim Land auf Zulassung einer freien Schule. Im Juni fand sie die Zusage im E-Mail-Postfach, erzählt Horstmann. „Wenn ich daran denke, kriege ich heute noch Gänsehaut.“

In Sachsen-Anhalt gibt es nach Angaben des Kultusministeriums derzeit 101 freie Schulen, an denen 16802 Schüler lernen, 8,9 Prozent aller Schüler im Land. Eine Schule - die in Angern - wurde in diesem Jahr neu gegründet, eine hat im Landkreis Wittenberg aufgegeben. Unter den freien Schulen sind 50 Grundschulen, 18 Sekundarschulen, zwölf Gymnasien, sechs Gesamtschulen, fünf Gemeinschaftsschulen, sieben Förderschulen und drei Waldorfschulen.

Häufigster Anlass für die Gründung freier Schulen ist nach Angaben des Landesverbandes deutscher Privatschulen der Wunsch nach einem besonderen pädagogischen Profil. Auch der Erhalt von Schulen für den Ort spielt eine Rolle. Viele Schulgründungen habe es zu Beginn der 90er Jahre gegeben - „und einen größeren Boom nach dem ersten Pisa-Test“, so Landesgeschäftsführer Jürgen Banse. Zuletzt seien Gründungen eher verhalten gewesen - im Durchschnitt waren es zwei bis drei pro Jahr. (löw)

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Nach einem Jahr Pause wird an diesem Wochenende wieder eine erste Klasse in Angern eingeschult, zwölf Kinder. Die ehemalige Direktorin, vor anderthalb Jahren in Rente gegangen, wurde zurückgeholt. Dazu kommen zunächst vier Honorarkräfte. Unter ihnen ist ein Englisch-Muttersprachler, der den bilingualen Unterricht absichert - neben Umweltfragen ein wesentlicher Aspekt im neuen Konzept. Es war viel Arbeit, vor allem für den Verein als Träger. Doch auch, als nach dem Okay im Juni noch jede Menge Bürokratie anstand, Räume renoviert wurden: „Ich hatte immer das Gefühl, dass das ganze Dorf beteiligt ist“, sagt Horstmann.

Drei Jahre Eigen-Finanzierung

Die staatliche Schule schließt, eine freie wird gegründet - was zunächst so einfach klingt, ist alles andere als das. „Zu uns kommen häufig Initiativen und lassen sich beraten“, sagt Jürgen Banse, Landesgeschäftsführer im Verband deutscher Privatschulen. „Vom größten Teil hören wir nie wieder etwas - dem sind die Hürden zu hoch.“ Ein Trend, geschlossene öffentliche Grundschulen durch freie zu ersetzen, sei nicht erkennbar, heißt es denn auch beim Kultusministerium. Zu den Hürden gehört neben einem ausgefeilten Schulkonzept und dem Nachweis von Personal bereits mit dem Antrag im Jahr zuvor insbesondere die Finanzierung. In den ersten drei Jahren gibt es keine staatliche Unterstützung. Rund 380000 Euro mussten laut Horstmann in Angern für diese Zeit sichergestellt werden. Dazu tragen Schulgeld, Vereinsbeiträge und viele Sponsoren bei. Ein Kredit ist für den Notfall vereinbart. Und 50000 Euro pro Jahr schießt die Gemeinde zu. „Da gab es im Rat keine Diskussion“, sagt Bürgermeister Fitsch. Angern ist in der komfortablen Lage, nicht verschuldet zu sein.

Für die kommenden zwei Jahre herrscht nun im Ort eine besondere Situation: Neben der freien Schule, die zunächst nur mit der ersten Klasse startet, existiert im selben Gebäude noch die staatliche mit der dritten und vierten Klasse. Die Verbandsgemeinde hatte einst beschlossen, dass bereits eingeschulte Kinder bis zum Ende der Grundschulzeit in Angern bleiben - und dies zuletzt auch gegen den ursprünglichen Willen des Landesschulamtes durchgesetzt.

Für Henriette und ihre Eltern, für Angern hat sich der Grundschul-Zwist nun erstmal zum Guten gewendet. Sie sei bereit, dafür 50 Euro Schulgeld im Monat zu zahlen, sagt Friederike Eichstädt, selbst Zahnärztin im Ort. Geringverdienern kann der komplette Betrag oder Teile davon erlassen werden.

Bürgermeister Fitsch wäre froh gewesen, es hätte die Schuldebatte gar nicht erst gegeben. Auch er ist aber nun zufrieden. „Und glücklich, dass das Dorf so zusammengehalten hat.“ Demnächst soll neues Bauland ausgewiesen werden. Junge Familien können kommen. (mz)

Ortrun Horstmann und Bürgermeister Egbert Fitsch sind froh, dass die Gründung der freien Schule gelungen ist.
Ortrun Horstmann und Bürgermeister Egbert Fitsch sind froh, dass die Gründung der freien Schule gelungen ist.
Jens Schlüter Lizenz