Motorsport Motorsport: Adrenalin-Kick mit 70
MYLAU/HALLE/MZ. - An einen großen Erfolg und einen Verlust: den ihres wichtigsten Pokals.
Vielleicht steht er irgendwo verstaubt auf einem Dachboden. Vielleicht hat ihn längst jemand gefunden, ohne zu ahnen, was er seiner Besitzerin bedeutet. Die 70-Jährige aus Mylau (Vogtlandkreis) weiß es nicht. Sie mag nicht grübeln, selbst wenn des Rätsels Lösung ihr den Herzenswunsch erfüllen könnte.
1965 ist ihr im halleschen Steintor-Varieté der Pokal für ihren Sieg bei Sachsenring-Rennen abhanden gekommen. Sie ist die einzige Frau, die auf der legendären Rennstrecke als erste ins Ziel kam. Motorradrennfahrer-Ikone Mike Hailwood aus England hat ihr damals die Hand geschüttelt, als sie nach einer phänomenalen Aufholjagd beim WM-Lauf das Regenrennen der 125-Kubikzentimeter-Ausweisklasse gewann. Komiker Eberhard Cohrs lud sie zur Show im Steintor ein. Eine siegreiche Frau - die Ausnahme im DDR-Rennsport. Doch für Heinrich-Steudel endete die Show mit Entsetzen: "Als ich meine Sachen packte, war der Pokal weg." Es ist der einzige, der ihr aus ihrer außergewöhnlichen Karriere fehlt, die bis heute andauert.
An ihrer Laufbahn, sagt sie, waren die Eltern nicht ganz unschuldig. Sie waren es, die der begeisterten Geräteturnerin und Leichtathletin den Besuch der Sportschule ausredeten - in der heimischen Landwirtschaft war Hilfe gefragt. Also blieb die junge Helga Steudel. Und entdeckte ihre Liebe zum Motorrad, einer Java 350. Der erste Renntermin für die junge Frau war 1959. "Ich wurde verhöhnt und verspottet", erinnert sie sich. "Geh zurück an den Kochtopf", riet ihr die männliche Konkurrenz. "Am nächsten Tag bin ich die schnellste Trainingszeit gefahren. Da hat mich erstmal keiner mehr gegrüßt."
In den folgenden Jahren erarbeitete sich die Rennamazone den Respekt ihrer Konkurrenz. Als erfolgreichste Rennsportlerin der DDR wurde sie geachtet und geschätzt - wenn auch wohl von manchem am liebsten dann, wenn er nicht gerade ihre Rücklichter vor sich hatte. Allzu oft war das nicht der Fall: Heinrich-Steudel gewann auf den DDR-Rennstrecken so oft, dass ihr irgendwann die Herausforderung fehlte. Doch eine internationale Lizenz blieb ihr verwehrt - der in Paris ansässige Motorsportverband sah sie für Frauen auf dem Motorrad damals schlicht nicht vor.
Heinrich-Steudel machte aus der Not eine Tugend: Sie hängte die Motorrad-Kombi an den Nagel und startete ab 1970 auf vier Rädern. Mit einem RS 1000 bestritt sie ihr erstes Rennen, mit einem offenen Sportwagen "Spider B6" zeigte sie der Konkurrenz erneut Rücklichter. Und nur zu gern erzählt sie heute von der Entwicklung des MT 77 in der bekannten Rennwagenschmiede Melkus in Dresden. Dann schmunzelt Heinrich-Steudel über die "sozialistische Renngemeinschaft", die sich die Teile selbst besorgen musste. 40 Federn mit 100 West-Mark Bestechung direkt vom Hersteller, die Reifen in Tschechien, den Motor auf dem Schrottplatz. Und auf vier Rädern gelang ihr endlich, was ihr auf zweien verwehrt blieb: die internationale Lizenz. Heinrich-Steudel wurde auf Strecken im osteuropäischen Ausland heimisch, bis sie den Rennsport 1983 erneut aufgab.
Es sollte wieder nur eine Pause sein, die sie sich mit ihren bis heute zweitliebsten Hobbies Windsurfen und Abfahrtski vertrieb. Der Adrenalinstoß beim Rennen, der Drang nach dem perfekt funktionierenden Fahrzeug treiben die 70-Jährige immer noch an. Seit 2004 fährt sie wieder Autorennen, zwei Jahre später setzte sie sich auch aufs Motorrad. Elf Classic-Rennen stehen 2009 auf dem Plan.
"Ich riskiere nicht mehr die letzte Rille, aber sonst hat sich nichts geändert", sagt die Mylauerin. Selbst Verletzungen konnten und können sie nicht abschrecken. 1959, beim Renndebüt, hatte sie den ersten Unfall. Ein Jahr später verunglückte sie in Berlin schwer - manch Zuschauer hatte sie damals schon für tot erklärt. "Von da an habe ich gedacht: du hast das ewige Leben", sagt sie. Im September 2008 stürzte Heinrich-Steudel auf dem Hockenheimring. Wer sie heute sieht, mag kaum glauben, dass die Seniorin sich dabei einen Serienrippenbruch, einen doppelten Schlüsselbeinbruch und eine Fingerfraktur zuzog. Keine sieben Monate später saß sie wieder auf dem Motorrad.
Wie ihre Pläne aussehen? "Mein Team rechnet noch mindestens fünf Jahre mit mir", sagt sie lächelnd. Und hält es so wie mit dem Farbengeschäft, das sie mit ihrem rennsportbegeisterten, wenn auch nicht selbst fahrenden Mann seit 1974 führt: Solange es die Gesundheit erlaubt, geht es weiter. Auf dem Motorrad trägt sie noch ihre Leder-Kombi von 1965 - ebenso wie ihre Startnummer 112. Für den Rennwagen bekam sie zum 70. Geburtstag neue Kleidung geschenkt. Nur den Wunsch nach ihrem originalen Sachsenring-Pokal konnte noch niemand erfüllen. Sport