Montagsdemos Montagsdemos: Der Mutbürger
Halle (Saale)/MZ. - Dass der Wachmann ihn aufhalten wollte, hält Andreas Ehrholdt bis heute für einen guten Witz. Seine Zettel solle er mal gleich wieder abkratzen vom Haus des Wirtschaftsministeriums in Magdeburg, hatte der Uniformierte ihm zugerufen. Und dann am besten arbeiten gehen, statt die Leute aufzuwiegeln! Aus Andreas Ehrholdt, sieben Jahre danach immer noch ein großer Mann, nur schmaler und mit grau durchwirktem Haar, springt ein spitzes, grelles Lachen. "Den Job, den du hast, den könnte ich auch machen", sagt er, habe er zurückgerufen.
Nur wollte ihn ja immer keiner haben bis zu diesem heißen Sommer 2004, als ihm der Kragen platzte und er vom Wendeverlierer plötzlich zum Helden von Magdeburg wurde. Mit Umschulungen hatte es der gelernte Bahnarbeiter versucht, als Versicherungsverkäufer, als Abriss-Hilfe, als Bürokaufmann und als Selbstständiger. Immer ist es schief gegangen.
Knapp anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende der DDR war Andreas Ehrholdt ein Verlierer. Verschuldet, ohne Aussicht auf Arbeit, krank vor Kummer. "Ich wollte arbeiten", sagt er, "aber es gab einfach nichts." Und mit den Hartz IV-Gesetzen, diese Angst lässt ihn keine Nacht aus den Fingern, würde nun alles noch schlimmer werden.
Ehrholdt, einen Monat nach dem Mauerbau im kleinen Städtchen Genthin im Jerichower Land geboren, hat die Schuld bis dahin immer bei sich gesucht. Wenn keine Hoffnung zu sehen war, hat er sich eine daraus gemacht, das alles irgendwann ja besser werden müsse.
Aber danach sah es dann gar nicht mehr aus. Ehrholdt sagt, er habe sich "einfach beleidigt von diesem als Reform verpackten Sozialabbau" gefühlt, den Gerhard Schröder in seiner "Agenda 2010" angekündigt hatte. Warum, das weiß er nicht mehr genau, aber er druckt diese kleinen Plakate. Hundert zu Hause am Rechner, hundert kopiert ein Bekannter. Ehrholdt, einst erst NVA-Offiziersbewerber, dann keiner mehr, später SED-Genosse und dann ausgeschlossen, will das Volk auf die Straße holen gegen die Regierungspolitik, die er "unsozial und ungerecht" findet.
Er sieht sich schon allein auf der Straße stehen, weil kein anderer kommt. Es ist ihm egal. Wer verloren hat, sagt er, hat nichts mehr zu verlieren. Er täuscht sich. 600 kommen zu seiner ersten Montagsdemo, 6 000 zur zweiten. Am dritten Montag steht Andreas Ehrholdt, der sich selbst "Doktor der gelebten Philosophie" nennt, schon vor 12 000 Leuten und es ist ihm anzusehen, dass er stolz und hilflos zugleich ist. "Ich wollte nie der Chef dieser Bewegung sein", sagt er, "aber es war eben kein anderer da."
Der Mann, der zu DDR-Zeiten mit Staatsratseingaben um das kämpft, was er gut und gerecht findet, wird zum ersten Mal im Leben nicht mehr belächelt und als Spinner verspottet. Er ist der Mutbürger von Magdeburg, ein Mann, der vor Kameras Forderungen stellt, weil er die Massen hinter sich hat.
Andreas Ehrholdt ist völlig falsch am richtigen Ort. "Ich mochte nie Antworten vorgeben, ich wollte immer nur, dass alle Fragen stellen", sagt er heute. Inzwischen ist Ehrholdt nach einem Schlaganfall Invalidenrentner. Sein Traum, von der Protestwelle bis in den Bundestag getragen zu werden, währte nur kurz. Es habe Anzeichen gegeben, dass der Körper nicht so wollte, sagt er. Er hat nicht hingehört, bis er musste.
Nun sitzt er wieder in dem kleinen Haus in Woltersdorf, das Spuren allmählichen Verfalls zeigt. Es riecht nach Armut in den winzigen Zimmern. 549 Euro Rente bekommt der Revolutionär im Ruhestand. Genug, um sich und die 77-jährige Mutter durchzubringen. Zu wenig, um Frieden mit der Gesellschaft zu schließen, von der er sich einmal mehr ausgeschlossen fühlt. "Wir hätten was erreichen können", trauert Ehrholdt seinen Tagen im Führerstand der Protestzüge nach. Dazu hätte man nur einig sein müssen, was man will.
War man nicht. Nie. Nicht mal annähernd. Er habe sich deshalb damals schnell "so ein bisschen zurückgezogen", gibt Ehrholdt zu. Mit dem Erfolg begann ja schon der Untergang. Erst kamen die Radikalen von rechts und links, die den Protest von unten mit Parteifahnen schmückten. Dann folgten Neid und Streit über den weiteren Weg.
"Vielleicht hätte ich", sagt Andreas Erholdt heute, "klar machen sollen, was ich will." Vielleicht hätten sie da aber auch schon nicht mehr auf ihn gehört? Als er mal mit den Rechten redete, damit die bei einem Auftritt von Gregor Gysi nicht mit NPD-Flaggen vor dem PDS-Mann herumwedeln, hat ihn eine andere linke Truppe fotografiert. "Ehrholdt kungelt mit Nazis", stand dann im Internet.
"Hinterhältig" nennt Ehrholdt diese "Manöver" der Leute, die auf den Flammen seines ehrlichen Zorns ihr Politsüppchen kochten. Verrat aber wirft er den anderen vor. Denen, die mitgelaufen sind und dann wieder zu Hause blieben. "Vor allem aber denen, die den Hintern gar nicht hochbekommen haben." Nicht ihn, sondern sich selbst hätten die verraten, schnaubt Ehrholdt, für einen Augenblick doch ein Wutbürger. Dann lacht er kickernd über sich selbst.
Warum meist nur die kamen, die gar nicht betroffen waren von Hartz IV, hat er schon 2004 nicht verstanden. Es ist ihm bis heute ein Rätsel geblieben. Hatten viele schon resigniert? Hatten sie zu viel damit zu tun, "ein paar Euro extra aufzutreiben"? Andreas Ehrholdt möchte es inzwischen nicht mehr wissen. "Ich wollte die Leute aus der Apathie reißen", gesteht er, "aber das kann kein Einzelner."
Man müsse dann seine Konsequenzen ziehen, sagt er. Die DDR zum Beispiel, die Ehrholdt bis heute gern "meine DDR" nennt, weil das Ostler wie Westler zuverlässig verwirrt, hat er im Sommer 1989 über Ungarn verlassen. "Ich war nie einverstanden mit dem, was das Politbüro aus dem Land gemacht hat." Als er sich mit allen überworfen hatte und auch die Drohung mit dem Ausreiseantrag nicht zu mehr Gerechtigkeit führte, zog er an den Niederrhein. Ohne in der Fremde je heimisch werden zu können. "Mein Haar ist manchmal fettig, aber nie gegelt", sagt Ehrholdt und er meint damit, dass er niemandem nach dem Munde reden will. Nicht im Osten, nicht im Westen.
Nach sechs Monaten ist er zurückgewesen in Woltersdorf. Bei der Bahn mochten sie ihn nicht wieder einstellen. Es folgen 14 Jahre ABM, Umschulung, Minijobs, Existenzgründungen. 14 Jahre, angefüllt von einem wachsenden Hadern mit der Welt, die nicht nur insgesamt ungerecht war, sondern auch ihm selbst gegenüber.
Von wegen, es muss ja irgendwann besser werden! Selbst der Moment, in dem er als Montagsdemo-Initiator endlich einen Zipfel Hoffnung in der Hand hält, entschwindet grußlos. Für den Auslöser der Proteste ist kein Platz mehr unter den Profis auf der politischen Bühne. Und alle seine Versuche, selbst ein Profi zu werden, gehen schief: Die Gründung von Parteien, Bewegungen, die Volksinitiativen, Mahnwachen, ein einsamer Protestmarsch nach Berlin.
Am Ende ist Andreas Ehrholdt wieder da, wo alles angefangen hat. Er sitzt in dem kleinen Zimmer gegenüber der Schlafcouch, studiert den "Millenniumsplan" der Uno und schreibt am Computer lange Abhandlungen über Wege zur wirklich gerechten Gesellschaft. Es gehe ihm jetzt nicht mehr um Deutschland allein, sagt Andreas Ehrholdt. Die Probleme müssten global gelöst werden.
Deshalb engagiert er sich mittlerweile auch bei Demokratie Jetzt. Das ist mehr so ein Protest im Internet. Doch im Herbst soll eine große Aktion in allen Hauptstädten der Welt steigen. Da wäre er natürlich dabei, denn eigentlich wartet er ja bloß auf den Moment, wo es wieder losgeht, weil "die Menschen sich nicht ewig betrügen lassen". Was anders laufen müsste, wüsste Andreas Ehrholdt heute ganz genau. Aber er ist auch Realist. "Man hat immer Hoffnung", sagt er, "und die nimmt man dann mit ins Grab."