Urbexer und "Lost Places" Lost Places und Urbexer: Ruinenfans auf der Suche nach dem Charme des Verfalls

Halle (Saale) - Eine Bügelsäge liegt auf dem Tisch, daneben die leere Kaffeekasse. Staub hat sich fingerdick auf der Wachstuchtischdecke mit den verblassten gelben Blümchen abgelagert, der Sanikasten ist von der Wand gefallen, ebenso große Teile Putz. Ein DDR-Gesetzblatt vom Januar 1983 liegt im Fensterbrett, das Papier ist brüchig, aber alle Anweisungen zum neu geregelten Umgang mit Lebensmittelzusatzstoffen sind noch gut zu lesen.
Hier beim VEB Meisterbräu, wo bis Mitte der 90er Jahre Bier gebraut wurde, ist die Zeit stehengeblieben. In der Luft liegt der Geruch von Geschichte, ein Gefühl von vergessener Vergangenheit, konserviert in einer Bauhülle, die wie eine Zeitkapsel funktioniert hat. Draußen vor der langen Backsteinmauer, aus der mittlerweile Büsche und kleine Bäumchen wachsen, zerfielen Weltreiche, Kanzler, Päpste und Präsidenten wurden gewählt, Kriege geführt und Erfindungen gemacht, die die Welt veränderten.
Drinnen aber ist Frühstückspause für immer, mit stets derselben, lange schon ausgetrockneten DDR-Milchflasche, der Kuller Stanniolpapier daneben, in der wohl mal Brote verpackt waren, und dem einsamen Arbeitsschuh unter dem Stuhl, den sein Besitzer aus rätselhaften Gründen zurückgelassen hat, während er den anderen lieber mitnahm.
27.111 Mitglieder hat die Facebook-Gruppe Urbex, auf der Trümmertouristen aus der ganzen Welt ihre Fotobeute von Streifzügen durch Lost Places in aller Herren Länder teilen. Bei Instagram gibt es inzwischen sechs Milionen Urbex-Bilder.
Seit einem Vierteljahrhundert schon fällt wechselndes Licht auf diese Szenerie, die unberührt vor sich hin rottet. Mal tropft Regen durchs Dach. Mal heizt die Sonne die Räume auf, dass der Staub durch die Luft flirrt. Mal beißt der Frost sich ins Gemäuer. Alles bleibt hier, und alles ändert sich, als wollte es die große Richtung illustrieren, in die Weltall, Erde und Mensch gemeinsam marschieren: Von der höheren Ordnung zum Zerfall, von der Organisation zum Chaos, vom menschgemachten System aus Mauern, Türen, Dächern, Tischen, Stühlen und gepflasterten Böden zu leeren Brachen, die sich die Natur langsam, aber beharrlich zurückholt, bis mehr als 130 Jahre Industriegeschichte verschwunden sind.
Bilder vom Verfall: Urbex-Fotografie als Massenphänomen
Orte wie die frühere Meisterbräu-Brauerei in Halle, verlassene Kurkliniken im Harz, die Wünsdorfer Sowjetkasernen oder das frühere Buna-Klubhaus X 50 bei Schkopau finden sich überall in Ostdeutschland. Hier, wo die Stilllegung von Industrieanlagen in den 90er Jahren zu einem Massenphänomen wurde, entdecken Fans der sogenannten Urbex-Fotografie heute das, was sie „Lost Places“ nennen - „Geisterstätten“, wie die beiden Buchautoren Arno Specht und Uwe Schimunek eine Buchreihe genannt haben, in der sie vergessene Orte im gesamten Osten zeigen und die geschichtlichen Hintergründe der verlassenen Orte beschreiben.
Sachsen-Anhalt, dem der neueste Band gewidmet ist (Jaron-Verlag, 96 Seiten, 12,95 Euro), ist ein besonders ergiebiges Forschungsgebiet für die Leute, die sich nach dem englischsprachigen Begriff „Urban Explorer“ (zu deutsch Stadterkunder) selbst „Urbexer“ nennen und sich mit Vorliebe bei Facebook oder beim Fotoportal Instagram versammeln.
Gruppen, die „Schönheit des Verfalls“ oder „Vergessene Orte“ heißen, haben bei Facebook tausende oder sogar zehntausende Mitglieder. Hier werden Fotos miteinander geteilt, aber über die genauen Orte, an denen sie entstanden sind, meist eifersüchtig gewacht, denn besonders fotogene Ruinen gelten Eingeweihten als wohlzubehütende Geschenke, deren geheime Koordinaten allenfalls im vertrauten kleinen Kreis weitergereicht werden. Unter dem Instagram-Hastag „#Urbex“ finden sich derzeit dennoch mehr als sechs Millionen Fotos bei Instagram, unter „abandoned“ und „lost places“ sind es weitere drei Millionen.
Orte des Verfalls inzwischen Tummelplatz für Hobbyknipser und Fotografen
Aus dem schrägen Hobby einiger Mutiger ist eine weltweite Massenbewegung geworden. Im Staub der Zeit suchen nicht mehr nur professionelle Fotografen wie Markus Will und der Hallenser Marc Mielzarjewicz, der mit seinem Portal marodes.de und seiner Vorliebe für strenge Schwarz-Weiß-Fotos bekannt wurde, nach dem, was vom Tage übrigbleibt, wenn der Mensch seine sieben Sachen packt und seine Fabriken, Kraftwerke, Theater, Schlösser, Kliniken und Ferienheime sich selbst überlässt. Sondern immer öfter dringen auch Hobbyknipser und Freizeitfotografen dorthin vor, wo ehemals wirtschaftliches und kulturelles Leben blühte und heute nur noch Rost.
Zuerst kommen die Sprayer, die das Grau mit Sprühdosennebel überschminken, bis sich Bahnbetriebswerke und Schlachthöfe, Herrenhäuser, Polizeipräsidien und Planetarien in Galerien verwandeln, zu denen nur Einlass findet, wer Zäune übersteigt, Mauern erklettert oder genau weiß, welche Kellertür seit zwanzig Jahren offensteht.
Dahinter wartet das Abenteuerland, unentdeckte Welten, Galaxien, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat - oder doch jedenfalls nicht so: Gezeichnet von der verronnenen Zeit, morbide, verloren, vergangen.
Urbex-Filme aus der Region:
www.bit.ly/gravodruck
www.bit.ly/schalendom
www.bit.ly/kuehnhaus
www.bit.ly/reichsbahnschule
