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Leben zwischen Bach und YouTube Leben zwischen Bach und YouTube: Kruzianer, Thomaner, Kapellknaben

Von Simona Block 07.09.2015, 10:38
Ein Wandbild mit dem Leipziger Thomanerchor malt der Leipziger Künstler André Löser in Leipzig an eine Grundstücksmauer.
Ein Wandbild mit dem Leipziger Thomanerchor malt der Leipziger Künstler André Löser in Leipzig an eine Grundstücksmauer. dpa/Archiv Lizenz

Dresden/Leipzig - Klare Knabenstimmen erfüllen Gänge und Flure des Alumnats im Leipziger Forum Thomanum. Hier heißt das Zimmer Stube, das Gebäude Kasten und der Schrank Knöte. Die Schule ist aus, die kleinen Sänger rennen zur Mensa im angeschlossenen Neubau, die Älteren haben es weniger eilig. Auf dem Weg zum Mittagessen werden die Stimmen für die nächste Probe präpariert und getestet.

Knabenchöre haben in Deutschland eine lange Tradition. Zwei der ältesten und berühmtesten, der Dresdner Kreuzchor und der Thomanerchor Leipzig, sind in Sachsen beheimatet. Mit den Dresdner Kapellknaben verkörpern sie zusammengerechnet knapp 2000 Jahre Musikgeschichte. Wie ihre Altersgenossen früherer Generationen gestalten die Sänger zwischen 9 und 19 mit ihren wohlklingenden reinen Stimmen Gottesdienste in Kreuzkirche, Thomaskirche und Kathedrale - und Konzerte in der ganzen Welt.

„Scht!!!“, zischt Gotthold Schwarz, Interim im Thomaskantorat, ungehalten im großen Probensaal des Forum Thomanum. „Bitte nehmt alle Platz und kommt zur Ruhe“, fordert er und tadelt zugleich: „Die Noten kann man auch ganz ohne Kommentar rausnehmen.“ Sekunden später strecken die Jungs die Rücken durch und mühen sich um den rechten Schütz-Klang, unter den mahnenden Augen vergangener Thomaskantoren in Öl an der Wand.

„Singen!“, mahnt Schwarz, der selbst aktiver Thomaner war. Die Jungen sollen sich endlich auf die Pflicht konzentrieren. Erst im dritten Anlauf trifft auch der Letzte den Ton zur Zufriedenheit. Thomanerchor und Kreuzchor sind Kulturinstitutionen und Aushängeschilder der Städte, die sie tragen. Die Kruzianer haben mit Kreuzgymnasium und Alumnat ebenso ein modernes Domizil wie die Thomaner mit dem Campus Forum Thomanum - und kurze Wege vom Internat zu Schule und Proben.

Die Kapellknaben wohnen und üben im eigenen Institut, müssen zum katholischen Gymnasium aber mit der Bahn fahren. Dafür zahlt der Bischof von Dresden-Meißen das Schulgeld. Mittelalterliche liturgische Knabengesänge sind musikalisch das tägliche Brot der Jungs, die in der Freizeit Modernes hören - Jazz und Swing, Rock und Pop, Elektro. Vertraut sind sie mit Schütz oder Mendelssohn - und Johann Sebastian Bach. Dem Komponisten und Kantor des 18. Jahrhunderts sind vor allem die Thomaner verpflichtet.

Und sie arbeiten mit zeitgenössischen Komponisten zusammen, auch aus den eigenen Reihen. Kruzianer Jan Arvid Prée meint, die künstlerische Arbeit komme wegen der Pflichten in Schule und Chor zu kurz. „Mozart hat mehr Zeit gehabt zum Kompoinieren - er war kein Kruzianer“, lacht er. Kreuzchor-Manager Uwe Grüner betont: „Sie machen das Abitur auch in zwölf Jahren, bekommen nichts geschenkt.“
Von Elitedenken oder Arroganz ist keine Spur. „Wir haben es mit ganz normalen Jungs zu tun, die am liebsten Fußball spielen und Rad fahren“, sagt Thomanerchor-Geschäftsführer Stefan Altner. Wie zur Bestätigung springen einige Thomaner vom Mittagstisch auf und rennen durch große Glastüren auf die Fußballwiese. „Tooor!“ jubelt es wenig später über den Platz. Eine halbe Stunde danach trotten die Jungs abgekämpft zur nächsten Probe.

Bevor es losgeht, werden schnell noch Facebook-Accounts, Twitter- oder WhatsApp-Nachrichten gecheckt, ehe die Smartphones in den Taschen verschwinden. Auch die Chöre sind bei Facebook aktiv. Motetten der Thomaner sind schon eine Stunde später auf YouTube zu sehen. „Aber das Hauptereignis bleibt der Auftritt, die Menschen sollen nach Leipzig kommen und den Chor live erleben“, sagt Altner.
Bei den Kruzianern ist das Oberensystem im Alumnat abgeschafft, die Kapellknaben haben längst keinen Internatszwang mehr. Nur die Thomaner leben nach wie vor altersgemischt in Stuben. Ansonsten geben die Älteren auch in den anderen Ensembles den Takt für die Kleineren vor, kontrollieren vor dem Auftritt die Kleidung und ob Fingernägel sauber, Haare gekämmt und Schuhe geputzt sind.

Transparentes Leistungseinordnen schade meistens nicht, resümiert Bundesinnenminister Thomas de Maiziére (CDU) als Kruzianer-Vater. Frühe Förderung und Akzeptanz von Ämtern forme Verantwortung, selbst gesteckte Ziele ließen Flügel wachsen und setzten ungeahnte Kräfte frei. „Wir haben etwas erlebt, was wir bei unseren Kindern sonst wenig erlebt haben: die Kraft zur Konzentration.“

Auch Kruzianer Vincent bereut die Zeit im Chor nicht. „Manchmal aber habe ich gezweifelt“, sagt 18-Jährige. Der Chor bestimme das ganze Leben. „Es ist keine Familie, aber familiär.“ Dabei sind neun Jahre Gesangs- und Instrumentalunterricht auf hohem Niveau längst kein Garant für eine Musikkarriere. Die jungen Männer können anschließend chorisch singen - mehr auch nicht.

„Am Ende müssen sie schwer arbeiten, um ein Studium zu bekommen und eine Sängerlaufbahn einzuschlagen“, sagt Altner. „Wenn einer im Chor gut ist, heißt das nicht, dass er auch ein toller Solist ist“, stimmt sein Dresdner Kollege Grüner zu. Nur wenigen gelingt eine Ausnahmekarriere wie Theo Adam, Peter Schreier, René Pape oder Matthias Henneberg im klassischen Fach. Oder Sebastian Krumbiegel, Tobias Künzel und Jens Sembdner von den Prinzen.

Maß halten, christliche Grundwerte pflegen, Vertrauen, ethisch-moralische Grundsätze - die Kruzianer haben sich gerade einen eher traditionellen Wertekanon gegeben. Dabei singen sie durchaus nicht mehr nur unter dem Kreuz, sondern auch im Bahnhof und bald im Fußballstadion. „Die Chöre bewahren Kulturtradition und sind trotzdem modern“, sagt Kreuzkantor Roderich Kreile.

„Die Zeit dort hat mir alles gegeben“, sagt Tenor Schreier. Der 80-Jährige meint nicht nur die Musik. „Der Kreuzchor hat mich auch persönlich entscheidend geprägt.“ Und für Dirigent Christian Thielemann ist ein Knabenchor „unbedingt!“ zeitgemäß: Er habe „diesen speziellen, unwiderruflichen Klang, dessen Timbre auch deswegen so berührt, weil Stimmen an sich vergänglich sind“. Das Problem dabei: Jungs kommen immer früher in den Stimmbruch - Thomanern, Kruzianern und Kapellknaben droht Männerüberschuss. (dpa)

Das enthüllte Bach-Portrait von E. G. Haußmann (1748) in der Leipziger Nikolaikirche in Leipzig.
Das enthüllte Bach-Portrait von E. G. Haußmann (1748) in der Leipziger Nikolaikirche in Leipzig.
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Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU, l) spricht zum Thomanerchor am 04.06.2015 im Alumnat der Thomaner in Leipzig (Sachsen). Im Hintergrund steht der Thomanerchor im Altarraum.
Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU, l) spricht zum Thomanerchor am 04.06.2015 im Alumnat der Thomaner in Leipzig (Sachsen). Im Hintergrund steht der Thomanerchor im Altarraum.
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