Erste Montagsdemo vor 30 Jahren Erste Montagsdemo vor 30 Jahren: Wie Leipzigs Wende-Proteste in die Tagesschau kamen

Leipzig - Am Morgen weiß Horst Hano noch nicht, dass er am Abend Bilder senden wird, die Deutschland verändern werden. 4. September 1989, ein Montag. Hano und seine Kollegen setzen sich in Ostberlin, Hauptstadt der DDR, ins Auto. Ihr Fahrtziel ist Leipzig. Offiziell wollen sie zur Messe, zu der Journalisten aus dem Westen immer herzlich willkommen sind. Inoffiziell wollen sie zur Nikolaikirche im Stadtzentrum. Dort versammeln sich seit Anfang der 1980er Jahre Montag für Montag Oppositionsgruppen zum Friedensgebet. Horst Hano ist 51 Jahre alt, es ist sein vierter Tag als ARD-Korrespondent in der DDR.
Während der Fernsehreporter und sein Team auf dem Weg nach Leipzig sind, laufen in der Mariannenstraße 46 im Osten der Stadt die letzten Vorbereitungen für den Abend. Gesine Oltmanns und ihre Freundin Katrin Hattenhauer, beide Anfang 20, malen in ihrer Wohnung in einem besetzten Haus Transparente. Vier Bettlaken, rot und schwarz bepinselt mit Forderungen nach Reise- und Versammlungsfreiheit.
„Für ein offnes Land mit freien Menschen“ steht auf einem - es soll eine der berühmtesten Losungen der friedlichen Revolution des Herbstes 1989 in der DDR werden. Der Plan: Nach dem abendlichen Friedensgebet wollen sie die Transparente auf dem Kirchhof entrollen - vor den Augen der Staatsmacht und der Westmedien.
Sommer 1989: DDR-Bürger gehen auf die Straße
Oltmanns und Hattenhauer sind seit langem in Oppositionsgruppen aktiv, als der Sommer 1989 alles ändert. Immer mehr DDR-Bürger fliehen in die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Budapest oder gleich über die Grenze von Ungarn nach Österreich. „Wir hatten das Gefühl, wir müssen ein Zeichen setzen“, sagt Oltmanns über die Transparent-Aktion. Die Idee: Wer das Land nicht verlassen will, der muss jetzt auf die Straße gehen, um für Veränderungen einzustehen.
Die Proteste vom 4. September gelten als die erste Montagsdemonstration des Revolutionsherbstes 1989 in Leipzig. Nach dem Friedensgebet versammeln sich rund 1000 Menschen vor der Nikolaikirche, mittendrin: Gesine Oltmanns und Katrin Hattenhauer. Sie entrollen das erste Transparent, ihre Freunde folgen mit den anderen. Horst Hano und sein Team filmen.
Zweimal im Jahr, zur Frühjahrs- und zur Herbstmesse, waren Westjournalisten gern gesehen in Leipzig. Die DDR wollte sich als guter Geschäftspartner zeigen. „Während der Messe waren die Behörden ziemlich locker“, erinnert sich der ehemalige ARD-Korrespondent Horst Hano. „Wir konnten uns relativ frei bewegen.“
Die Anwesenheit westlicher Medien bot auch Oppositionellen Schutz. „Die Stasi hielt sich normalerweise zurück“, sagt Gesine Oltmanns, „sie wollte keine negative Berichterstattung.“ Nur am 4. September 1989 war das anders.
Stasi entreißt Plakate: ARD-Team zufällig vor Ort
Es dauert nicht lange, ein, zwei Minuten vielleicht, dann schreitet die Stasi ein. Am Abend ist in der Tagesschau zu sehen, wie Männer in Lederjacken und Parkas den friedlichen Demonstranten das erste Transparent entreißen, dann die weiteren. Es kommt zu Tumulten, „Schweine!“, ruft eine Frau, Rufe wie „Wir wollen raus!“ und „Stasi raus!“ sind zu hören.
Die Szene dauert keine Minute, doch das genügt, um die offiziellen Erzählungen der DDR-Behörden, wonach die Oppositionellen aus der Nikolaikirche „Rowdys“ seien, Lügen zu strafen. Es ist genau umgekehrt: Die Menschen demonstrieren friedlich, der Staat greift mit Gewalt durch.
Horst Hano und sein Team senden auch andere, so noch nie gesehene Bilder von diesem Abend. In die Kirche kommen sie nicht hinein, also filmen sie draußen, ungestört: Wie die Sicherheitskräfte sich in den Nebenstraßen formieren, Stasi-Leute und uniformierte Volkspolizisten.
ARD-Reporter spricht heute noch von großem Glück
Wie das Gotteshaus quasi umstellt wird. Hano ist ein freundlicher Herr von mittlerweile 81 Jahren, noch heute spricht er von „Reporterglück“: „Wären wir in der Kirche gewesen, hätten wir nie filmen können, wie die Aufstellung nehmen“, sagt er am Telefon. Es ist klar: Da liegt etwas in der Luft. Besucher des Friedensgebetes, auf dem Weg in die Kirche, raunen den Journalisten zu: Bleibt mal hier, heute könnte noch etwas passieren. Sie bleiben.
Als sie später die Aufnahmen im Kasten haben, nutzt Horst Hano die unübersichtliche Lage, um mit der Filmrolle in der Tasche unbehelligt zum Übertragungswagen zu kommen. Ein umgebauter Wohnwagen, den sie in einer Seitenstraße geparkt haben. Er stellt den Film fertig, überspielt ihn nach Hamburg, gerade rechtzeitig für die 20-Uhr-Tagesschau.
Schützten Tagesschau-Kameras die Menschen vor Verhaftungen?
Verhaftet wird an diesem 4. September niemand, das ist den Behörden vor westlichen Kameras offenbar zu heikel. Die Stasi beschlagnahmt die Transparente, seitdem gelten sie als verschollen. Was weiterlebt, ist die Losung von damals - „Für ein offnes Land mit freien Menschen“. Für Gesine Oltmanns stand sie damals für die Forderung nach Reisefreiheit und Demokratisierung der DDR. Und heute? Sie überlegt kurz. „Dafür, dass die Demokratie Menschen braucht, die sie gestalten“, sagt sie. Das sei der Auftrag des Herbstes 1989, so empfindet sie das.
Umso mehr ärgert sie sich über die Kampagne der AfD in den jüngsten Landtagswahlkämpfen. „Vollende die Wende“, hat die Partei frech plakatiert, „Wende 2.0“ und „Wir sind das Volk!“, ein Schlachtruf der Montagsdemonstranten von damals. Gerade in Leipzig, das sich gerne als Gralshüter der friedlichen Revolution sieht, kommt das gar nicht gut an. Eine Reihe von 89er-Oppositionellen wehrt sich in einem offenen Brief gegen den, wie es heißt, „Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989“.
Aktivisten von damals ärgern sich über Kampagne der AfD
Uwe Schwabe, Vorstand des Leipziger „Archivs Bürgerbewegung“, gehört zu den Erstunterzeichnern, auch Gesine Oltmanns hat unterschrieben. Sie schüttelt kurz den Kopf, rührt in ihrem Kaffee, schaut irritiert, dann sagt sie: „Die Kampagne der AfD ist absurd!“ Das sei der Versuch, die Bundesrepublik von heute mit der DDR gleichzusetzen. Genauer: den Rechtsstaat Bundesrepublik mit einem Land, in dem die Demonstranten von 1989 Rechtsstaatlichkeit einforderten.
Der 4. September vor 30 Jahren in Leipzig, die Bilder in der Tagesschau, sie haben dazu beigetragen, die DDR zu Fall zu bringen. Aber noch sollte das ein paar Wochen dauern. Eine Woche später greift die Stasi nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche durch, jetzt wird wahllos verhaftet, wie Oltmanns sich erinnert. Sie hat Glück, sie bleibt frei. Ihre Freundin Katrin Hattenhauer, mit der zusammen sie die Transparente gemalt hatte, kommt dagegen ins Gefängnis. Noch einmal demonstriert der Staat seine Macht.
ARD-Journalisten dürfen nach 4. September nicht mehr nach Leipzig
Für Westjournalisten wie den ARD-Korrespondenten Horst Hano ist Leipzig seit dem 4. September 1989 eine „verbotene Stadt“, so nennt er das heute. Mehrmals versuchen sie noch nach Leipzig zu gelangen, stets werden sie vor der Stadtgrenze abgefangen. Die Fernsehbilder von der größten Montagsdemo in Leipzig, als am 9. Oktober 70 000 Menschen über den Ring laufen, nimmt ein Oppositioneller für die ARD heimlich von einem Kirchturm aus auf. (mz)
Zeitzeugengespräch u.a. mit Horst Hano: 4. September, 19 Uhr, „Runde Ecke“ Leipzig, Dittrichring 24
