Professor mit künstlicher Hand Bertolt Meyer aus Leipzig: Einblicke in das Leben des Professors mit der künstlichen Hand

Leipzig - Duschgel auftragen, es abwaschen, sich abtrocknen: Bertolt Meyer erledigt das alles mit einer Hand. Seine rechte ist deutlich geschickter als die von anderen Rechtshändern.
Zumal morgens nach sechs, wenn die linke Hand noch im Schlafzimmer liegt. Die Prothese schraubt er vorm Zubettgehen ab und verbindet sie mit der Steckdose.
Sie lädt auf wie ein Handy und kann bis zu zwanzig Stunden machen, was er von ihr will. Das ist ziemlich viel. Duschwasser abhalten gehört nicht dazu.
Das ist die Geschichte eines Mannes, der ohne linken Unterarm geboren wurde und der so viel erreicht hat, dass er mit 39 Jahren sagt: „Ich bin selber von meinem Leben positiv überrascht.“ Bis dahin aber dauerte es einige Zeit. Denn was jahrelang Meyers fehlende Hand ersetzte, war so unschön wie das Wort Prothese.
Bertolt Meyer aus Leipzig: Lange Zeit in Bewegung eingeschränkt
Bis Ende der Neunzigerjahre musste Meyer Schultergurte tragen, sein gesunder Oberarm steckte in einem Plastikschaft. Er bediente die Kunsthand über einen Bowdenzug.
Alles aus eigener Kraft. Es war extrem unangenehm, gerade im Sommer. Meyer schwitzte mehr als andere. Beim nächsten Modell bekamen seine Muskeln immerhin elektrische Verstärkung.
Gleichwohl war das Bewegungsrepertoire bescheiden. Gerade mal öffnen und schließen konnten sich Daumen, Zeige- und Mittelfinger, ähnlich wie eine Greifzange, mit der Arbeiter im Park den Müll aufheben.
Die Metallfinger steckten unter hautfarbenem Kunststoff. Das Handimitat erinnere ihn an ein Sanitätshaus in den Siebzigern, sagt Meyer spöttisch.
Er ist jemand, der Sinn für Schönes hat, der Inspiration schätzt.
Bertolt Meyer aus Leipzig: Manches klappt mit rechts
Als er 2014 die Professur für Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der TU Chemnitz bekam, entschieden er und sein Lebenspartner sich gegen die Stadt. Lieber zogen sie nach Leipzig.
In der Altbauwohnung im Stadtteil Plagwitz füllen Künstlergrafiken die Wände. An seinem Institut gilt Meyer als der bestens angezogene Professor. Es dürfen Einstecktuch oder extraschicke Socken sein.
Jetzt macht er sich gleich auf den Weg zum Zug, so wie an drei weiteren Tagen pro Woche. Vorher den Frühstücksteller auf die Arbeitsfläche stellen, Creme im Gesicht verteilen und Wachs im Haar: alles mit rechts. „Das geht ja auch viel schneller.“ Aber die linke, die Technikhand, hält die Wachsdose beim Aufschrauben und ist unerlässlich beim Schuhebinden.
Bertolt Meyer aus Leipzig: Neue Hand von sechs Elektromotoren betrieben
Daumen und Zeigefinger schließen sich surrend und halten den Schnürsenkel fest. Die rechte bindet. Bevor Meyer in den Ärmel seines Mantels fährt, strecken sich die Finger der Prothese und der Daumen knickt ein.
So grazil war der alte Greifer nie. „Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht“, sagt Meyer. Gleich mehrere Finessen prägen seine neueste Kunsthand, die sogenannte i-Limb Quantum.
Dank zweier Gelenke in jedem Finger und insgesamt sechs Elektromotoren kann sie sich komplett um Objekte schließen. Ihre Sensoren sind fein genug, dass ein dünnes Glas oder ein rohes Ei den Griff überstehen.
Alle fünf Finger bewegen sich einzeln, ähnlich wie bei einer richtigen Hand. Darum spricht man von einer bionischen Prothese. Bionik ist ein Neuwort aus Biologie und Technik. Gar nicht neu ist das Prinzip, technische Probleme nach Vorbildern aus der Natur zu lösen.
Bertolt Meyer aus Leipzig: Künstliche Hand reagiert auf Muskelspannung im Arm
Meyer brauchte ein Vierteljahr, bis er die künstliche Hand souverän steuern konnte. Sie reagiert auf Muskelanspannung im Arm. Zwei Elektroden nehmen die Impulse auf und leiten sie weiter bis in die Finger aus Plastik, Aluminium, Titan.
Je nachdem, wie oft das Muskelsignal kommt und wie lang es ist, nimmt die Hand eine programmierte Form an. Das ist praktisch an einem Morgen wie diesem.
Im Wagen der Straßenbahnlinie 14 Richtung Hauptbahnhof ist kein Sitzplatz frei. Nach einem Moment schließen sich die Technikfinger um die Haltestange. Langsamer, als es menschliche Finger täten, und der Griff sei weniger fest, sagt Meyer.
Er hätte sich genauso gut mit seiner biologischen Hand festhalten können. Aber mit der bedient er lieber das Smartphone, um Mails zu lesen. Die Zeit nutzen, das ist ihm wichtig.
Bertolt Meyer aus Leipzig: Mehr als eine peinliche Situation in Kindheit erlebt
Andere Fahrgäste starren schläfrig vor sich hin. Sie nehmen keine Notiz von Meyers Hand, die 30.000 Euro kostet. Kein Knirps fragt nach seinen Superkräften. Das kommt manchmal vor. Er gibt dann zu, dass er niemandem die Finger brechen kann. Trotzdem finden Die meisten Kinder finden seine Hand richtig cool.
So erfreulich lief das nicht immer. In seiner Kindheit erlebte Bertolt Meyer mehr als eine peinliche Situation, ausgelöst nur durch seine Prothese oder weil er mal ohne sie unterwegs war.
„Dabei fällt es einem selber gar nicht so auf, dass man behindert ist“, sagt er. Es sind andere, die Aufmerksamkeit darauf lenken. Zum Beispiel die Grundschullehrerin, die sich in der allerersten Stunde hinter ihn stellte und die Klasse auf das Handicap hinwies.
Zum Beispiel der Junge, der draußen beim Spielen das Kind ohne Unterarm entdeckte, geradewegs mit dem Finger darauf zeigte und laut zu lachen anfing. Zum Beispiel der Spruch an der Klowand: Berti = Robocop.
Bertolt Meyer aus Leipzig: Professor, Optimist, DJ, Tänzer
Heute schmunzelt Meyer darüber. „Aber damals fand ich’s doof.“ Andere hätten von den Hänseleien einen Knacks gekriegt. Vielleicht wären sie verbittert. Meyer nicht. Große, wache braune Augen. Ein gepflegter Mehrtagebart umrundet sein Lächeln.
Angekommen am Chemnitzer Institut für Psychologie, geht es Schlag auf Schlag. Anrufe, Besprechungen, Mittagessen, Vorlesung. Meyer redet sehr bestimmt.
Er nennt sich Optimist und sieht manches locker. Auf seinen Unterrichtsfolien verzichtet er auf das „Prof. Dr.“ vor dem eigenen Namen. Mitarbeiter, Doktoranden, sogar einige Studenten duzen ihn.
Man hört, Meyer kritisiere oft und deutlich, aber immer wertschätzend. In der Freizeit komponiert er elektronische Musik. Tritt als DJ auf, geht tanzen in Technoclubs, die er mag wegen der„urbanen Rotzigkeit“.
Bertolt Meyer aus Leipzig: In Kindheit nicht in Watte gepackt
Wie hat er das alles geschafft? Auf dem Ultraschallbild war nichts zu sehen. Die Ärzte sprachen von einer Dysmelie, als Bertolt Meyer an einem Apriltag des Jahres 1977 in Hamburg zur Welt kam.
Die seltene Krankheit folgt festen Mustern. Das Ergebnis ist die Fehlbildung von Gliedmaßen. In diesem Fall endete der Arm des Babys knapp unterhalb des Ellenbogens.
Die Eltern waren liebevoll, erinnert sich Meyer. Doch sie packten das Kind nicht in Watte. Sie ließen es klettern und auf die Nase fallen. Viele Jahre war der junge Bertolt bei den Pfadfindern aktiv.
Gemeinsam wanderten sie in den Sommerferien von Budweis nach Prag. Hackten Holz mit dem Beil. Entzündeten Feuer. Bauten Zelte. „Da war meine Behinderung nie ein Thema.“
Bertolt Meyer aus Leipzig: Krankenkasse verweigert zunächst Unterstützung
Als Jugendgruppenleiter vertrauten ihm andere Eltern ihre Kinder an. So erklärt er sein Interesse an Gruppenerfahrungen und warum er Psychologie studierte. Und warum er heute zu Themen wie Vielfalt und Stereotype forscht.
Seine Hochschulkarriere führte ihn von Hamburg nach Berlin, Japan und Zürich. Dort brauchte er eine neue Prothese, die bisherige war kaputt. Im Internet entdeckte er die i-Limb und beantragte sie.
Aber die Krankenkasse weigerte sich. Etliche Briefe folgten. Zwei Gutachter mit Klemmbrett begleiteten Meyer durch den Tag, um zu schauen, ob der das teure Teil tatsächlich braucht.
Bertolt Meyer aus Leipzig: Viel mehr als ein notdürftiges Hilfsmittel
Nach einem Jahr lenkte die Kasse überraschend ein. 2009 bekam Meyer seine erste bionische Prothese. Es kann keiner sagen, wie viele vergleichbare Fälle es in Deutschland gibt.
Fest steht, auch andere Betroffene haben ein Recht auf Fortschritt. Vor vier Jahren verurteilte das Sozialgericht Heilbronn eine Krankenkasse, die Kosten für eine i-Limb zu zahlen.
Sie sei erforderlich, um die Behinderung der Klägerin auszugleichen, begründeten die Richter. Es bestünden deutliche Gebrauchsvorteile gegenüber sonstigen Unterarmprothesen.
Was Bertolt Meyer an seiner linken Seite trägt, ist kein notdürftiges Hilfsmittel. Es ist Technik auf der Höhe der Zeit, umhüllt von einem durchsichtigen Silikonhandschuh.
Bertolt Meyer aus Leipzig: „Sie dürfen ruhig gucken“
Zur Wahl standen auch Überzüge in Schwarz und Hautfarbe. Aber das hätte ausgesehen, als wollte er etwas verstecken, als habe er es nötig, Natürlichkeit vorzutäuschen.
Hat er nicht. Die Hand sehe einfach gut aus, findet er. Wenn er am Laptop arbeitet, bleibt der Zeigefinger gestreckt, die anderen Finger biegen sich ein. So tippt Meyer auch mit links gut.
Wenn er zum Hörsaal geht, trägt die Hand sicher Adapter, Kopfmikro und Pointer. Wenn er zu Hause Nudeln macht, fischt er mit der Hand ein Spaghetto aus dem Kochwasser, um zu prüfen, ob die Pasta fertig ist.
Die Hand hat seine Möglichkeiten enorm erweitert und damit zugleich sein Selbstvertrauen gestärkt. Im Sommer fährt er oft Rad und trägt T-Shirt, dann sehen andere Leute sogar den schwarzen Prothesenschaft. Für ihn kein Problem. „Sie dürfen ruhig gucken.“
Bertolt Meyer aus Leipzig: Anwender, aber kein Patient
Meyer sagt, er sei kein Patient. „Ich bin ja nicht krank. Mein Körper sieht halt anders aus.“ Er nennt sich Anwender. Auf Messen führt er die Hand vor. Als Gegenleistung schenkt ihm der Hersteller alle zwei Jahre ein neues Modell.
Meyer will die Zukunft des technisch aufgerüsteten Körpers nicht den Ingenieuren und Ökonomen überlassen. Darum mischt er sich in Debatten ein. Er mag es nicht, wenn von Maschinenmenschen oder Cyborgs die Rede ist. Begriffe, die falsche Vorstellungen auslösen.
Gerade wenn es, wie in seinem Fall, um Medizin gehe. Es könnte sein, dass sich das Bild ins Gegenteil verkehrt: vom netten, schwächlichen Behindi zum kalten Übermensch. Das wäre keinesfalls besser.
Käme die berühmte Fee, um ihm drei Wünsche zu erfüllen: Bertolt Meyer würde seine künstliche Hand nicht gegen eine natürliche tauschen. „Die gehört zu mir“, sagt er. „Das bin ich.“ (mz)