Als die DDR kapitulierte Als die DDR kapitulierte: Die heimlichen Helden der Leipziger Demo am 9. Oktober 1989

Leipzig - Es gab keinen Plan außer dem, auch an diesem Montag wieder nach Leipzig zu fahren und die Kamera draufzuhalten. „Egal, was passieren würde“, sagt Aram Radomski, „wir wollten es dokumentieren und festhalten.“ Es ist Herbst 1989, die DDR wackelt und wankt und Woche für Woche finden sich nach den Friedensgebeten in der Nikolaikirche mehr Menschen zusammen, die ihren Unmut aus dem Gotteshaus auf die Straße tragen wollen.
Ein paar Hundert waren es erst, dann ein paar Tausend und eine Woche später noch ein paar Tausend mehr. Obwohl die Staatssicherheit alles, tut, um Teilnehmer einzuschüchtern und den Protest zu zersetzen, wie es im Stasi-Jargon heißt. Kamerateams aus dem Ausland lassen die DDR-Behörden längst nicht mehr nach Leipzig. Was auch immer dort geschieht, es soll keinesfalls an die Öffentlichkeit dringen.
Videofilme für das bei der DDR-Führung verhasste Westfernsehen
Ein Fall für Aram Radomski und seinen Freund Siegbert Schefke. Der gebürtige Neubrandenburger, gelernter Agrotechniker und als freier Fotograf erfolgreich, sowie der Baufacharbeiter, der die oppositionelle Berliner Umwelt-Bibliothek mitbegründet hatte, sind schon seit drei Jahren dabei, insgeheim und sorgfältig getarnt Videofilme für das bei der DDR-Führung verhasste Westfernsehen zu drehen.
Roland Jahn, der 1983 ausgebürgerte Mitbegründer der Friedensgemeinschaft Jena, hatte nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik alles darangesetzt, moderne Videokameras in die DDR zu schmuggeln.
„Roland war der Meinung, dass diese technische Revolution uns die Möglichkeit gibt, Bilder aus dem Inneren der DDR zu zeigen und damit eine Gegenöffentlichkeit zur staatsamtlichen Erzählung von der DDR als Erfolgsgeschichte zu schaffen.“ Radomski und Schefke filmen geheime Giftmülldeponien, sie zeigen das Ausmaß des Verfalls in den Innenstädten, die Tristesse des Alltags, den Mangel an Waren und die sinnentleerte Propaganda, die allgegenwärtig ist.
„Satan“ nennt die Staatssicherheit Schefke. Auch Radomski, der sich im Umfeld kritischer Rockbands wie „Herbst in Peking“ und „Feeling B“ bewegt, wird auf Schritt und Tritt durch mehrere Inoffizielle Mitarbeiter überwacht. Dennoch ist es den beiden eine Woche zuvor gelungen, zur bis dahin größten Montagsdemo nach Leipzig zu fahren.
Im Trabi nach Leipzig
Siegbert Schefke hat in seiner Wohnung Zeitschaltuhren installiert, die den Überwachern vorspielen, dass er Licht, Radio und Fernseher an- und ausschaltet, also zu Hause sein muss. Übers Dach entkommt er derweil, Aram Radomski wartet mit dem Auto einige Häuser weiter und nach mehreren Fahrzeugwechseln sind die Spitzel abgeschüttelt. „Wir haben dort aber dann den Fehler gemacht“, erinnert sich Radomski heute, „dass wir versucht haben, inmitten der demonstrierenden Menschen zu filmen.“ Die kleine S-VHS-Kamera von Panasonic lässt das zu, die Demonstranten aber nicht. „Die dachten natürlich, wir sind von der Stasi.“
Sind die beiden nicht, vielmehr arbeiten sie unter der beständigen Drohung, aufzufliegen und dann nach DDR-Rechtslage wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit für bis zu zwölf Jahre ins Gefängnis zu kommen. Zurück ins Gefängnis.
Denn dass Aram Radomski vom Sproß einer ursprünglich systemtreuen Familie überhaupt zum Staatsfeind wurde, verdankte die DDR ihrem Versuch, dem gerade 20-Jährigen klarzumachen, dass er die Finger von einer mongolischen Studentin lassen müsse, mit der ihn eine leidenschaftliche Liebesbeziehung verband. „Auf einmal hieß es, trenn’ dich, oder wir trennen dich.“ Radomski weigert sich, selbstverständlich, sagt er. Stasi-Männer überfallen und verprügeln ihn. Er wehrt sich, natürlich. „Und dann saß ich sechs Monate in Zeithain ab, wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und öffentlicher Herabwürdigung.“
Aram Radomski und Siegbert Schefke filmen Weltgeschichte
Wer sich am 9. Oktober 1989 mit einer Videokamera im Kofferraum und mehreren Fotoapparaten im Gepäck in einen Trabi setzt und nach Leipzig fährt, begibt sich in höchste Gefahr, wieder dort zu landen.
„Für den Fall hatten wir Selbstporträts von uns gefilmt und sie nach West-Berlin schmuggeln lassen“, sagt Aram Radomski. Im Fall der Fälle sollen sie gesendet werden, um auf das Schicksal der beiden Bürgerrechtler aufmerksam zu machen und die DDR „davon abzuhalten, uns vielleicht einfach Verschwinden zu lassen.“
Doch es geht alles gut an diesem Tag, an dem die beiden Männer im Trabi nicht ahnen, dass sie heute noch Weltgeschichte filmen und damit selbst ein Stück Geschichte schreiben werden. „Als wir uns Leipzig näherten, bemerkten wir, dass überall Armeelaster standen und Polizeieinheiten mit Schäferhunden versammeln waren“, beschreibt Radomski. Er habe sich eine ganze Weile gewundert und erst die richtigen Schlüsse gezogen, als ihm ein Zelt mit Rotem Kreuz ins Auge gefallen sei. „Da hielten wir das dann nicht mehr für ein Manöver, das zufällig stattfindet, sondern wir wussten, die machen hier ernst.“
„So eine komische Stimmung, Spannung in der Luft, still wie vor einem Gewitter.“
Nach der Pleite der Vorwoche, als sie ohne Material aus Leipzig zurückgekehrt waren, hatten die beiden Videofilmer beschlossen, sich dieses Mal einen höher gelegenen Ort zu suchen, von dem aus sie eine Totale der erwarteten Demonstration würden drehen können. „Aber vorbereitet war nichts, wir hatten keinen Platz geplant, nirgendwo anfragen können.“
Und der berühmte Leipziger Ring ist auch völlig menschenleer, als Aram Radomski und Siegbert Schefke die Innenstadt erreichen. „Kein Mensch auf der Straße, kaum ein Auto, nichts.“ Als dann plötzlich aus dem städtischen Lautsprechersystem der vom Dirigenten Kurt Masur verlesene „Aufruf der Leipziger Sechs“ erschallt, „hörte den dort, wo wir waren, niemand, weil dort gar keiner war.“ Radomski erinnert sich an eine beklemmende Atmosphäre. „So eine komische Stimmung, Spannung in der Luft, still wie vor einem Gewitter.“
Der Turm der Reformierten Kirche am Tröndlinring scheint den beiden Geheimagenten der Meinungsfreiheit ideal für ihr Vorhaben, was immer auch passieren wird, von oben mitzudrehen. „Erstmal hat uns der Pfarrer aber wegschicken wollen, aus Angst, dass die Stasi später aufgrund des Blickwinkels herausbekommt, von wo aus gefilmt wurde“, erinnert sich Radomski.
Sekunden später lässt er die beiden Kameramänner doch hinein. „Mit dem Satz: Von mir habt ihr den Schlüssel nicht.“ Aram Radomski und Siegbert Schefke klettern auf den Turm, „dort haben wir uns in die Taubenscheiße gesetzt und gewartet“.
Demozug wie eine Naturgewalt
Vergebens, wie es scheint. „Unter uns war eine tote Stadt, Dämmerung und Stille“, erinnert sich der heute 56-Jährige. Dann schwillt in der Ferne ein Grummeln an, ganz langsam, „ohne dass wir schon etwas gesehen hätten“. Und dann sei der Demozug wie eine Naturgewalt nähergekommen: Hunderte, Tausende, Zehntausende Menschen im Dämmerlicht, ganz ruhig, kaum Fahnen, Plakate oder Spruchbänder.
„Erst riefen sie ‘Wir sind keine Rowdies’“, hört Radomski von oben - offenbar eine Antwort auf einen Text in der SED-Parteizeitung „Neues Deutschland“, in dem die Demonstranten von Leipzig als „Rowdies und Betrunkene“ bezeichnet worden waren, die dem Sozialismus schaden wollten. „Dann veränderte sich das und die Leuten riefen ‘Wir sind das Volk’“.
Wir hier unten auf der Straße, nicht ihr dort oben in Berlin. Noch am selben Abend fahren Siegbert Schefke und Aram Radomski zurück in die Hauptstadt, der Trabi keucht auf einem Topf, aber es reicht, sie kommen durch.
Ein Korrespondent des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ steckt sich die Videokassette in die Unterhose und schmuggelt die originalen Aufnahmen über die Grenze zur Landesrundfunkanstalt des Senders Freies Berlin nach West-Berlin.
Sprengstoff, verborgen in einer Plastikhülle von 19 mal zehn mal zwei Zentimetern. Noch am selben Abend werden die Videobilder aus Leipzig zum Katalysator des Zusammenbruchs des DDR-Regimes: „Jetzt konnten alle sehen, wie viele es sind, die gegen die SED-Herrschaft aufstehen“, denkt Aram Radomski, „und jetzt wussten alle, dass die Macht des Staates, die Menschen von der Straße zu jagen, gebrochen war.“ (mz)