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Leben Leben: Freie Räume, freie Menschen

Von Henning Grabow und Kristin Zimmermann 10.08.2015, 11:38
Frank Mühe studierte in Hannover Medizin bevor er Anfang der 90er Jahre in Magdeburg sein HiFi-Geschäft Tonspur eröffnet.
Frank Mühe studierte in Hannover Medizin bevor er Anfang der 90er Jahre in Magdeburg sein HiFi-Geschäft Tonspur eröffnet. Kristin Zimmermann Lizenz

Es ist der 06.03.1999. In der Goethestraße 55 in Magdeburg versammeln sich die Trauergäste. Man trägt schwarz, es werden Kränze niedergelegt. Unter dem Motto "MIB - Mühe in Black" kommen ein letztes Mal bis zu 400 Menschen in der kleinen Stadtvilla für eine Abschiedsparty zusammen. Zu Grabe getragen wird eine Reihe von mittlerweile legendären Mottofeiern, welche Magdeburgs Clubszene teilweise bis heute prägen. "Mean Green, Violent Violett, Walpurgisnackt, das waren Themen unserer Partys", erinnert sich Frank Mühe, ein junggebliebener Fünfzigjähriger mit wachen Augen und einnehmendem Lächeln.

Grenzen öffnen

Begonnen hat alles mit der Eröffnung des HiFi-Geschäfts Tonspur in Magdeburg. Anfang der neunziger Jahre jobte Frank Mühe in einem Musikgeschäft in Hannover, um sich sein Medizinstudium zu finanzieren. Mit der Grenzöffnung kamen Kauflustige aus der ehemaligen DDR und deckten sich mit Musikanlagen ein. Frank Mühe wollte die Ware zum Kunden bringen und baute kurzerhand in Magdeburg sein eigenes HiFi-Geschäft auf. Bald gab er sein Medizinstudium auf und zog in die Elbstadt.

Bruchbude mit Charme

Auf der Suche nach einer passenden Wohnung halfen Frank Mühe seine neugewonnen Kontakte. Ein Paar, das er aus seinem Laden kannte, gab ihm den Tipp, sich doch mal ihre alte Wohnung in der Goethestraße 55 anzusehen. "Alles hatte diesen morbiden und alten Charme, diesen alten Glanz, dieses Zeugnis einer großen Stadtvilla-Vergangenheit der goldenen Zwanziger Jahre." Seine Augen leuchten noch heute, wenn er von dem Gebäude erzählt. Die günstige Miete und der einnehmenden Charme des Hauses im Viertel Stadtfeld - heute eines der teuersten Wohngebiete Magdeburgs - hatten allerdings auch ihre Kehrseite: bröckelnde Fassade, die Forster Schwerkraftheizung im Keller und undichte Fenster. Was Frank Mühe beeindruckte, hatten die alteingesessenen Mieter satt. "Die Familie, die damals noch über mir wohnte, wollte da unbedingt weg. Aber ich nahm es gern in Kauf, auch mal Kohlen zu schaufeln." Nach und nach zogen die ursprünglichen Hausbewohner aus und stattdessen Freunde von Frank ein.

Offen, tolerant, lebenslustig

Die "Legende" der Goethestraße 55 nahm mit den ersten Partys in der Stadtvilla ihren Lauf. Alte Freunde aus dem 'Westen' trafen zu diesem Anlass auf die 'neuen' Freunde aus Magdeburg. Mit Franks Bekanntenkreis wuchs auch die Teilnehmerzahl exponentiell an, jeder brachte irgendwann noch irgendwen mit. "Wir machten uns irgendwann Gedanken, wie wir den Personenkreis von bald über 100 Leuten wieder einschränken können. Wie stellen wir es an, dass wieder die Leute kommen, die auch vom Feeling zu uns passen? Das war uns wichtig: offene, tolerante und einfach lebenslustige Partys zu veranstalten." Die Lösung: Kostümzwang. "Diese Restriktion wurde zum Selbstläufer, sodass irgendwann das Motto zum Ansporn für die richtigen Leute wurde. Wo komme ich an ein Kostüm, wer näht mir was, wie setzen wir das Motto um und so weiter."

Die Goethestraße 55 war in den Neunzigern nicht nur Wohnraum für Susett Scholle und Frank Mühe, sondern auch ihr Dancefloor. Regelmäßig veranstalteten sie im Magdeburger Viertel Stadtfeld Kostümpartys mit hunderten Gästen. 20 Jahre später erinnern sie sich zurück an die "G55"-Feiern, plaudern über zerbrochene Fensterscheiben und fragen sich, warum eigentlich nie Jemand die Polizei gerufen hat.

In der zweiten Hälfte der Neunziger blühte die Goethestraße 55 unter dem Namen G55 weiter auf. Laute House Musik und bis zu 400 feierfreudige Menschen: Gab es da nie Probleme? "Einmal, ziemlich zu Beginn, riefen uns Nachbarn mal über den Zaun zu: 'Ihre pubertären Exzesse werden wir ihnen noch austreiben!'", lacht Frank Mühe. Außer einigen zerbrochene Fensterscheiben sei allerdings tatsächlich nie etwas passiert.

Was bleibt

G55: das waren wohl einfach die richtigen Leute, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. "Vielleicht war es sogar gut, dass das Ganze 1999 dann ein Ende fand. Wie es so schön heißt: 'Die Young - Stay Pretty'", erinnert sich Frank Mühe an diese für ihn unvergessliche Zeit. Eines Tages flatterte eine Sanierungsankündigung ins Haus und allen war schnell klar: Das war es dann wohl. Die Sanierung im Zuge der Aufwertung des Viertels war gleichzeitig das Ende der legendären Veranstaltungen in der Goethestraße 55. "Die gesamten Neunziger waren für mich extrem prägend. Alles war rasant, aufregend, spannend - es hat sich viel neu entwickelt in dieser Zeit und ich habe so viele tolle neue Leute kennengelernt." Etwas wehmütig blickt Frank Mühe auf diese Zeit zurück. "Bis vor kurzem endete jedes meiner Nummernschilder noch auf G 55!" Frank Mühe grinst. Und man wünscht sich fast, man wäre damals dabei gewesen.

Frank Mühe in seinem HIFI-Geschäft Tonspur.
Frank Mühe in seinem HIFI-Geschäft Tonspur.
Frank Mühe Lizenz