Offener Brief aus Söllichau Offener Brief aus Söllichau: Kleine Orte brauchen Hilfe

Söllichau - „Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Haseloff, als meine Frau und ich aus gesundheitlichen Gründen Ende 1994 Leipzig verlassen haben und nach Söllichau umzogen sind, haben wir einen Ort vorgefunden der fast alle Wünsche des Otto Normalverbrauchers erfüllte.
Die 1260 Einwohner hatten alles, was man für ein normales Leben brauchte: Kaufhalle (damals noch Konsum) mit ausreichender Auswahl an Lebensmitteln, Bäcker, Fleischer, zwei Arztpraxen, Zahnarzt, Physiotherapie, drei Bankfilialen, Postfiliale und vier Briefkästen, Baumarkt, Kulturhaus mit Gaststätte, Bibliothek sowie Versammlungsräume und eine Gemeindeverwaltung mit einem Bürgermeister und zwei Gemeindeangestellten, die dem Bürger bei täglich entstandenen Problemen helfen konnten, etwa zehn Ratsmitglieder, die zusammen mit dem Bürgermeister die Geschicke der Gemeinde lenkten. Es gab eine große, neugebaute Schule mit Turnhalle, Schuhmacher, Handwerker aus verschiedenen Branchen, Linienbusverkehr und einen Bahnhof mit regelmäßigem Bahnverkehr, der die Einwohner des Dorfes mit ganz Deutschland verband.
Die Kreisverwaltung – damals Gräfenhainichen – lag 20 Kilometer entfernt. Alles das war im Jahre 1995. Heute, 24 Jahre später, ist die Kreisverwaltung - Wittenberg - 32 Kilometer entfernt und nur per Auto erreichbar und von allen oben aufgezählten Errungenschaften ist nur eine Handvoll geblieben.
Keine Infrastruktur
Es gibt keine Kaufhalle mehr, keine Schule, keinen Baumarkt, das Kulturhaus mit ganzjährig verschlossenen Gemeindeverwaltungsräumen ist verwaist. Vor Kurzem wurde auf Initiative der Bürger wieder die Bibliothek geöffnet. Es gibt derzeit keine Sprechstunden des Ortsbürgermeisters, keine Postfiliale (von den vier Briefkästen sind nur zwei geblieben), von den drei Bankfilialen ist nur eine vorhanden – die Sparkasse, die nur am Freitag von 13.30 bis 17 Uhr Geldgeschäfte abwickelt. Der Bahnverkehr ist eingestellt, obwohl er zwischen Wittenberg und Bad Schmiedeberg gelegentlich genutzt wird. Der Bahnhof wurde an eine Privatperson verkauft. Eine Arztpraxis wurde geschlossen, der Bäcker, der schon Rentner ist, wird womöglich bald schließen. Von den 1260 Einwohnern sind etwa 850 geblieben, weil fast alle junge Menschen dem Dorf den Rücken kehrten.
Wer kein Auto hat, muss zusehen, wie er an Lebensmittel kommt, Pakete oder Einschreibebriefe verschickt. Radwege auf der Sachsen-Anhalt-Seite ins sechs Kilometer entfernte Bad Düben gibt es nicht. Die Straße dorthin ist schmal und gefährlich.
Wenig Präsenz
Politiker lassen sich nicht mal vor Wahlen sehen. Da hängen nur ihre Fotos an den Lichtmasten. Als wir nach Söllichau umgezogen sind, gab es in Bad Schmiedeberg eine Polizeistation mit sieben Polizisten und ein Umschalttelefon direkt nach Wittenberg. Dank Ihrem Innenminister mit seiner Einsparung an Personal bei der Polizei sowie der „glänzenden“ und politisch nicht durchdachten Idee der Eingemeindung gibt es heute nur zwei fest stationierte Polizisten für 25 Ortsteile, die zu Bad Schmiedeberg und den Gemeinden gehören.
Dazu muss ich noch erwähnen, dass für diese Gebietsreform eine Befragung mit Abstimmung der Bürger durchgeführt wurde – die Söllichauer haben mit 73 Prozent „nein“ gesagt. In anderen Orten war auch das „nein“ überwiegend. Trotzdem gehörten wir ein paar Monate später zu Bad Schmiedeberg – das nennt man Demokratie.
Nun noch mal zurück zu der Polizeistation – die örtliche Polizei zu erreichen, ist eine Art Lotto-Spiel. Entweder sind sie unterwegs, im Urlaub oder krank. Den Fall hatte ich. Auf meinen Anruf in Gräfenhainichen erhielt ich zur Antwort: „Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich bin zur Zeit allein im Revier“. Neulich wurde im Amtsblatt von Bad Schmiedeberg verkündet, das die genannte Polizeistation nur einmal in der Woche Sprechstunde hat - dienstags von 10 bis 12 Uhr und von 13 bis 15 Uhr.
So ist die Lage, Herr Ministerpräsident, in vielen Orten der Gemeinde Bad Schmiedeberg. Keine Einkaufsmöglichkeit, beschränkter öffentlicher Verkehr, kein Arzt, keine Schule, keine Kulturveranstaltungen, obwohl es an Räumlichkeiten nicht mangelt. Vor der Gebietsreform haben zehn bis zwölf Bürger die Geschicke der Gemeinde geregelt, heute sind es nur drei, einer davon der Ortsbürgermeister. Damit sind auch demokratische Entscheidungen eingeschränkt.
Und noch eine knifflige Frage: Die ganze Welt spricht von Klimaschutz, aber Ihre Regierung erlässt Gesetze, die dem in keinem Fall entsprechen. Es geht um die Verbrennung von Gartenabfällen. Sie und Ihr zuständiger Minister haben mit dem Gesetz die Entscheidung den Kreisen überlassen. Vernünftige Kommunalpolitiker, wie in den Kreisen Anhalt-Bitterfeld und Köthen, haben das Verbrennen generell verboten. In ganz Sachsen ist es auch verboten. Bei uns im Kreis Wittenberg werden nur die Kurgäste in Bad Schmiedeberg verschont, obwohl die im Ort verteilten Kindergärten und medizinischen und sportlichen Einrichtungen eigentlich eine Verbrennung laut Verordnung verbieten sollten. Dazu kommt, dass sich sich viele Bürger nicht an die Bestimmungen halten und weit mehr als nur Gartenabfälle verbrennen.
Die Liste der Unzulänglichkeiten, die kleine Orte betreffen, ist zu lang, um in einem Brief erfasst zu werden. Die kommunalen Politiker sind an die Gesetze des Landes gebunden oder reden sich raus, wenn sich die Bürger mit ihren Problemen an sie wenden.
Bürger zweiter Klasse
Nun brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass die Menschen die AfD wählen. Das werden Sie bei der nächsten Wahl auch zu spüren bekommen, wenn sich nicht etwas generell in der Politik bezüglich der kleinen Orte ändert, deren Einwohner sich als Bürger zweiter Wahl fühlen. Es ist fünf vor 12, Herr Ministerpräsident!
Da ich vermute, dass Sie mein Schreiben möglicherweise nicht zum Lesen bekommen, wenn ich es per Post sende oder Sie lassen einen Ihrer Schreiber mit einem lapidaren Text antworten und alles widerreden - das habe ich schon bei mehreren Kommunalpolitikern erlebt - habe ich Ihnen mein Schreiben als offenen Brief durch die Zeitung zukommen lassen.
Mir ist bewusst, dass Sie genug zu tun haben, trotzdem würde ich mich sehr freuen, wenn Sie auf mein Schreiben reagieren und den Landbewohnern und ihren Sorgen etwas mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmeten.
Es ist nur eine Frage des Wollens.“
Mit Hochachtung, Michail Michailow
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Wer schreibt?
Der Autor dieses offenen Briefes, Michail Michailow, arbeitete mehr als zwei Jahrzehnte lang als Fotograf für die Leipziger Volkszeitung, am Stammsitz und auch in Delitzsch und Altenburg. Der 87-Jährige stammt aus Bulgarien und lebt seit seinem Ruhestand im heutigen Bad Schmiedeberger Ortsteil Söllichau.
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(mz)