Altenheim und Sekundarschule Altenheim und Sekundarschule: Die Ersatz-Enkel in Annaburg

Annaburg - Tom Wille, Schüler der neunten Klasse in der Sekundarschule Annaburg, möchte einen Pflegeberuf erlernen. „Ich habe auch schon ein Praktikum in Torgau in der Gerontopsychiatrischen Abteilung gemacht“, erzählt er. „Dort hatte ich es mit demenzkranken Menschen zu tun.“
Er habe keine Berührungsängste gegenüber alten und gebrechlichen Menschen. Seine Großmutter sei 93 Jahre alt. „Und meine Tante ist Altenpflegerin“, erzählt er. Für Tom gab es daher kein langes Überlegen, als zu Beginn des neunten Schuljahres die Frage stand, welchen der beiden an der Schule für die neunten und zehnten Klassen angebotenen Wahlpflichtkurse er belegen will: Computer oder Sozialassistenz.
Pro Woche zwei Stunden
Letztgenannten Kurs gibt es seit zehn Jahren an der Annaburger Sekundarschule. „Es bietet sich doch an“, sagt Lehrerin Kerstin Müller, die mit ihrer Kollegin Heike Günther den Kurs leitet. „Wir haben ein großes Pflegeheim mit zwei Häusern in unmittelbarer Nachbarschaft.“ In zwei Gruppen, dienstags und donnerstags, gehen die Kursteilnehmer für zwei Stunden ins Pflegeheim.
Ihre Aufgabe ist es dort, sich mit den alten Menschen zu beschäftigen. „Jeweils ein Schüler bereitet eine 45-minütige Beschäftigung vor“, so die Lehrerin. „Für gerade mal 15-Jährige ist das eine große Herausforderung“, bestätigt sie. „Sie können aber bei den Ergotherapeuten hospitieren und sich Hilfe holen.“
Basteln, Spiele, Gedächtnistraining, Gymnastik - die Möglichkeiten würden in ihrer ganzen Bandbreite genutzt. „Im Frühjahr haben sie Sportspiele auf dem Flur gemacht. Da hatten alle einen Heidenspaß.“ Die Heimbewohner seien sehr ehrlich und würden den jungen Menschen auch sagen, was ihnen nicht so gefällt. Zeit für Gespräche und Spaziergänge ist im Kurs ebenfalls einkalkuliert.
28 Kursteilnehmer waren es in diesem Jahr, laut Heike Günther sogar mehr Jungen als Mädchen. „Die Jungen tun den Männern richtig gut“, erzählt Kerstin Müller. In einigen Fällen entstünden enge Beziehungen. „Für manchen Bewohner sind die Schüler Ersatz-Enkel.“
Kurz vor Schuljahresabschluss gibt es für die Kursteilnehmer immer eine spezielle Aufgabe. Zum Auftakt des Annaburger Heimatfestes bringen sie die Heimbewohner zur Kaffeetafel der Senioren ins Festzelt. Aus dem Haus II sind es vornehmlich Rentner, die auf den Rollstuhl angewiesen sind.
Bei fünf bis sechs Betreuern, berichtet Schwester Sabine Schmidt, müsste jeder von ihnen fünfmal zwischen der ehemaligen Garnison und dem Festzelt pendeln, um die alten Leute abzuholen. Die ersten würden dann schon mehr als eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn im Festzelt sitzen.
Dank des Einsatzes der Schüler sowie einiger Angehöriger können alle Heimbewohner, die an der Veranstaltung teilnehmen möchten, zugleich und ohne große Warterei dorthin und anschließend auch wieder ins Heim gebracht werden. „Das ist für uns heute eine Riesen-Entlastung“, sagt die Betreuerin.
Es ist ein imposantes Bild, wenn sich der Tross in langer Reihe durch den Schlosspark schlängelt. Maximilian Schütze fährt die 82-jährige Edith Brauße. Der Neuntklässler und die Rentnerin verstehen sich blendend. „Wir sind beide aus Prettin“, erzählt Maximilian.
Vorm Überqueren der Schlossstraße dreht Maximilian den Rollstuhl in die entgegengesetzte Richtung. „Den Bordstein runter geht es immer rückwärts, damit die Person nicht vornüber aus dem Rollstuhl stürzt“, erklärt der Schüler. Das Bedienen des Rollstuhls haben sie gleich zu Beginn trainiert.
Wertvolle Erfahrungen
Für Marlene Hauß und Sina Heck war dies das letzte Mal. Sie stehen kurz vor dem Schulabschluss. „Wir haben das immer gern gemacht“, sagt Marlene Hauß. „Man sammelt dadurch auch viele Erfahrungen.“
Für erfolgreiche Kursteilnahme erhalten die Schüler in der zehnten Klasse ein Zertifikat. „Nicht nur bei der Bewerbung für Sozialberufe bringt das Punkte“, weiß Kerstin Müller. „Die Arbeitgeber staunen, was die Schüler in dem Kurs alles leisten.“
Auch fließt dieses Angebot in die regelmäßige Bewertung für das Berufswahlsiegel Sachsen-Anhalt ein, das die Sekundarschule seit zehn Jahren trägt. „Schade ist, dass uns die Lehrerstunden immer mehr gekürzt wurden“, sagt die Pädagogin. „Wir hätten es uns ja auch einfach machen und den Kurs reduzieren können. Aber wir möchten daran festhalten.“ Etwa sechs Annaburger Schulabgänger pro Jahr entscheiden sich laut Müller für einen Sozialberuf.
„Manchen sehen wir als Praktikanten in der Ergotherapeutenausbildung bei uns wieder“, berichtet Heimleiterin Kerstin Schäde. Die Hoffnung, dass aus dem Kurs heraus Bewerbungen als angehende Altenpfleger kommen, habe sich bislang noch nicht erfüllt. Dennoch sieht Kerstin Schäde den Kurs als gute Sache: „Das hat sich zum Selbstläufer entwickelt“, so die Heimleiterin. (mz)