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Ex-Diakon schreibt Chronik Ursprünge der Neinstedter Stiftung vor dem Vergessen bewahren

Wie viel Gemeinde steckt noch in der Evangelischen Stiftung Neinstedt? Um diese Frage aufzugreifen, ist Wolfgang Bürger auch ein unrundes Jubiläum recht. Wie vor 135 Jahren mit der Lindenhofsgemeinde alles begann.

Von Benjamin Richter 07.12.2021, 12:00
Mit seinem Buch möchte der frühere Diakon Wolfgang Bürger die Ursprünge der Neinstedter Stiftung in der Lindenhofsgemeinde in Erinnerung rufen.
Mit seinem Buch möchte der frühere Diakon Wolfgang Bürger die Ursprünge der Neinstedter Stiftung in der Lindenhofsgemeinde in Erinnerung rufen. Foto: Richter

Neinstedt/MZ - Bei einem Mosaik muss der Betrachter normalerweise einen Schritt zurücktreten, damit sich vor seinem Auge die Farbflächen zu einem Bild zusammenfügen. Auf dem Einband von Wolfgang Bürgers Buch „Lindenhofsgemeinde Neinstedt - Mosaik einer Entwicklung“ ist es umgekehrt: Erst wenn man das Buch vom Tisch nimmt und in Händen hält, erkennt man die Montage des Christusbildes von der Kuppel der Neinstedter Lindenhofskirche. „Es ist keine runde Geschichte“, erklärt der ehemalige Diakon Bürger, warum sein neues Werk in Trümmer-Optik daherkommt.

Herausgeber wählt 135. Jahrestag für Veröffentlichung

Nicht ganz rund ist auch das Jubiläum, das Bürger zum Anlass für die Veröffentlichung der über Jahre zusammengetragenen Dokumente genommen hat: So haben sich vor Kurzem die Gründung der Lindenhofsgemeinde Neinstedt-Thale und die Einweihung der Lindenhofskirche zum 135. Mal gejährt. „Es ist eine ungewöhnliche Zahl“, räumt der Herausgeber selbst ein, „aber wann soll man es sonst machen?“

Dass ihm etwas auf der Seele brennt, ist dem 80-Jährigen deutlich anzumerken. Man ahnt: Nicht nur zum Selbstzweck hat Wolfgang Bürger anhand von sieben schriftlichen Zeitzeugnissen - er nennt sie „Mosaiksteine“ - die Geschichte der Lindenhofsgemeinde umrissen.

Eine Geschichte, die, wie Bürger darlegt, mit einem modernen Ziel begonnen habe: Alle Bewohner der damals, im Jahr 1886, noch getrennten Stiftungen Lindenhof und Elisabethstift bildeten eine evangelische Gemeinde - „ob behindert, verwahrlost oder Mitarbeiter“.

„Die Gründung der Lindenhofsgemeinde passierte in einer Zeit, in der das Wort Inklusion noch nicht bekannt war.“

Wolfgang Bürger, Herausgeber und ehemaliger Diakon

Dazu wurde die Lindenhofsgemeinde per königlichem Beschluss - der König war damals oberster Kirchenherr - aus der Dorfgemeinde St. Katharinen und der Thalenser Gemeinde herausgenommen. „Das passierte in einer Zeit, in der das Wort Inklusion noch nicht bekannt war“, gibt Wolfgang Bürger zu bedenken.

Der Ex-Diakon hat sich auf die Spur des Namens „Neinstedter Anstalten“ begeben, den die im Lauf der Jahrzehnte zusammengewachsene Einrichtung bis 2015 offiziell führte und im alltäglichen Sprachgebrauch weiter trägt. „Es weist nichts darauf hin, dass der Begriff per Beschluss eingeführt worden ist“, stellt Bürger fest.

Er geht deshalb davon aus, dass der Name nicht von einem Tag auf den anderen, sondern erst nach und nach, fast unbewusst, seinen Weg in Dorfgespräche und ab 1875 nachweislich auch in Jahresberichte des Lindenhofs fand. Ab 1914 wurde der Begriff in den Berichten der zwei Stiftungen stärker hervorgehoben, wie er hinzufügt, und nach der Zusammenlegung beider Einrichtungen im Dezember 1989 weiter verwendet.

Ehemaliger Diakon findet Unterteilung der Gemeinde „unerträglich“

Schon damals, hebt Wolfgang Bürger hervor, sei die Lindenhofsgemeinde nicht mehr in der Satzung der Anstalten aufgetaucht. Mit dem Mitarbeitervertretungsgesetz von 1992, das Teil des fünften „Mosaiksteins“ ist, sei die sogenannte Dienstgemeinschaft etabliert und die Gemeinde in Mitarbeiter und Behandelte aufgeteilt worden. „Das ist unerträglich für eine Gemeinde, weil die Nutznießer der Arbeit auch Gemeindeglieder sind“, gibt Bürger zu bedenken.

Er will sich nicht damit zufrieden geben, dass die Gemeinde „offensichtlich nicht mehr als lebensnotwendig für das Werk“ der Neinstedter Anstalten angesehen werde, und führt eine Metapher des einstigen Gemeindepfarrers Gerhard Schorch (1989-1997) ins Feld. Der hatte die Gemeinde in einer Festschrift einmal als Folie bezeichnet, auf der das Werk der Anstalten wie Farbstifte auf einem Projektor sichtbar werde.

Entledige sich die Evangelische Stiftung der Gemeinde als Grundlage ihrer Arbeit und des Zusammenlebens in der Einrichtung, warnt Bürger, müsse eine neue gebildet werden. Der Alltag in der Stiftung habe sich in den vergangenen 30 Jahren grundlegend gewandelt: „Heute kommen die Betreuer morgens mit dem Auto, erledigen ihre Aufgaben und sind abends - husch! - wieder weg.“

Bürger kritisiert Abwesenheit der Stiftungsvorstände am Totensonntag

Im Gottesdienst werde jährlich Ende November offenbar, wo die Kluft in der Stiftung verlaufe. „Am Ewigkeitssonntag zeigt sich: Die Leiter gehören nicht mehr zur Gemeinde“, stellt Wolfgang Bürger klar, der berichtet, dass sich seit drei Jahren keiner der Stiftungsvorstände mehr zu diesem Anlass in der Kirche habe blicken lassen, um Abschied von den Verstorbenen zu nehmen, und Bereichsleiter dort auch seltene Gäste seien.

Noch mehr als eine Chronik will der Diakon im Ruhestand seine Schriftensammlung als einen Aufruf verstanden wissen. Zum Nachdenken - und zum Diskutieren darüber, wie das Leben in der Neinstedter Stiftung künftig gestaltet werden soll. „Da gilt es Fragen nach Rechten und Pflichten zu beantworten“, merkt Bürger an, „zum Beispiel die, ob Stiftungsbewohner automatisch Mitglieder der Gemeinde sind.“ Nach seinem Verständnis, betont er, müsse das so sein - um dem Gedanken der Inklusion Rechnung zu tragen. „Für unsere Einrichtung ist das eine Schicksalsfrage.“