„Das bricht mir das Herz“ Sebastian Tannert aus Ballenstedt war zweimal in Afghanistan - Ein Gespräch über den Krieg und die Zeit danach

Ballenstedt/Masar-i Scharif/MZ - Als Antwort auf die Terroranschläge vom 11. September entsendete der Bundestag 2001 deutsche Soldaten nach Afghanistan. Nach dem Ende der Isaf-Mission bildete die Nato afghanische Sicherheitskräfte aus. Die Bundeswehr stellte dabei mit zuletzt 1.300 Soldaten - nach den USA - die zweitgrößte Truppe. Insgesamt schickte Deutschland in den knapp 20 Jahren mehr als 150.000 Soldatinnen und Soldaten an den Hindukusch. Sebastian Tannert, 30, aus Ballenstedt war einer von ihnen. MZ-Reporter Ingo Kugenbuch sprach mit ihm über die Angst im Gefecht, den Export westlicher Werte und seine Zukunft in Deutschland.
Herr Tannert, träumen Sie manchmal von Afghanistan?
Sebastian Tannert: Ab und zu. Manchmal tauchen Kameraden auf. Manchmal träume ich aber auch von Gefechten. Die Psychologen haben mir gesagt, das sei nichts Unübliches. Es ist ja auch eine absolute Ausnahmesituation für einen jungen Menschen, wenn er dort hinkommt. Das ist eine ganz andere Welt. Man wird zwar in der Ausbildung darauf vorbereitet. Wenn man dann aber dort ist und das wirklich spürt und sieht, dann ist das eine ganz andere Hausnummer.
Sie haben Gefechte erwähnt, von denen Sie träumen.
Ich wurde im Jahr 2018 innerhalb von 48 Stunden dreimal angegriffen - zweimal mit Raketen und einmal mit einem Mörser. Ich war damals in Kundus in einer afghanischen Kaserne untergebracht. Darin gab es einen deutschen Safe Haven (auf Deutsch: sicherer Hafen), in dem 70 Soldaten untergebracht waren - provisorisch, unter ganz einfachen Bedingungen. Dort haben wir für vier Wochen gelebt und kamen danach wieder zurück ins Camp Marmal nach Masar-i Scharif. Die deutschen Soldaten haben die Afghanen ausgebildet, und ich war als Sanitäter dort. Die Kaserne steht auf einem Berg, und aus dem Tal heraus haben die Taliban uns mit Raketen beschossen.
Was ist genau passiert?In der ersten Nacht schlugen zwei Raketen im Abstand von 400 Metern ein. In der zweiten Nacht wurde mit einem Mörser aus etwa eineinhalb Kilometern Entfernung auf uns geschossen. Die afghanische Artillerie hat zurückgeschossen und die Taliban vertrieben. Wenn man dort als junger Mensch mit 27 Jahren ist, und plötzlich knallt da eine Rakete rein, während du in einem behelfsmäßigen Bunker sitzt, dann gehen dir schon andere Gedanken durch den Kopf als in der Ausbildung in Deutschland. Plötzlich sitzt du da mit deinem Helm und deiner Weste und denkst: Du würdest schon gern wieder nach Hause kommen. Du hast doch einen Sohn und eine Familie...
Haben Sie Angst gehabt?
Ja, auf jeden Fall. Jeder hat anders darauf reagiert. Ich zum Beispiel war in der Situation sehr ruhig und in mich gekehrt, aber der Mann neben mir - das war sogar ein Panzergrenadier, der eigentlich für die Sicherung zuständig war - hat sich übergeben vor Aufregung. Und das Ganze hat Stunden gedauert.
Ist bei den Angriffen jemand verletzt worden?
Nein, niemand. Ich habe aber 2018 in Kundus Patienten in einem mobilen OP behandelt, die im Gefecht verwundet worden sind. Bei Hausdurchsuchungen, die die Amerikaner mit afghanischer Unterstützung vorgenommen haben, wurde ein 18-jähriger Afghane durch eine Sprengfalle verwundet - der ganze Unterschenkel war weg. Wir mussten ihm das Bein abnehmen. Ich dagegen habe mit 18 Jahren Fußball gespielt - oder mit der Playstation. Das sind negative und belastende Erlebnisse. Aber man wird dadurch erwachsen - und sieht die Welt danach mit anderen Augen.
Wie sehen Sie jetzt die Welt?
Wenn man in Afghanistan gewesen ist und gesehen hat, was es dort an Korruption, Gewalt und Armut gibt, und hier Parteien jetzt behaupten, Afghanistan sei ein sicheres Herkunftsland, dann fragt man sich: Sehen die nicht, was passiert? Es ist schade, was politisch geschehen ist. Die Ortskräfte, die über die Luftbrücke zu uns gekommen sind, sind genau die Menschen, die man jetzt eigentlich in Afghanistan braucht, weil sie die Demokratie aufgesogen haben. Zudem: Wir bekommen jetzt die Schutzbedürftigen und China und Russland vielleicht die Ressourcen. Afghanistan hat riesige Lithiumreserven. Damit kann man ordentlich Geld verdienen, wenn einem die westlichen Werte egal sind und man mit den Taliban Geschäfte macht. Das kann man global-politisch schon kritisch sehen.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie kürzlich die Bilder von Menschen gesehen haben, die bei ihrer Flucht aus Kabul von einem Flugzeug gestürzt sind?
Das bricht mir das Herz. Ich war zu großen Teilen am Abzug beteiligt und bin am 18. März nach Hause geflogen. Da wollten wir eigentlich schon aus dem Land raus sein. Durch die Wahlen in Amerika hat sich das aber verzögert. Als ich noch dort war, haben wir auch mit lokalen Kräften gesprochen, zum Beispiel mit Übersetzern. Die hingen in der Luft, haben nur ein One-Way-Ticket nach Deutschland bekommen, aber keins für ihre Familie. Und heute schieben sich die Ministerien gegenseitig die Schuld zu - auf Kosten der Menschen dort.
Warum ging dann alles plötzlich so schnell mit dem Sieg der Taliban und dem Abzug der internationalen Truppen?
In den großen Städten haben wir über 20 Jahre lang westliche Werte vermitteln können. Wir haben Schulen aufgebaut, und wir haben Medien aufgebaut, damit die Menschen aufgeklärt werden können. Die jungen Afghanen haben die westlichen Werte auch verinnerlich - und würden vielleicht auch dafür kämpfen. Aber in der ländlichen Gegend haben die Taliban weiterhin dominiert. Dort sind unsere Werte nicht angekommen. Jedem, der sagt, wir müssen nach 20 Jahren endlich raus aus Afghanistan, dem sage ich: Nein, wir hätten 60 Jahre bleiben müssen, damit das Land eine Chance hat.
Glauben Sie, man kann die Demokratie exportieren?
Ich würde es mir zumindest wünschen. Man kann sicherlich viele Probleme beheben und Anreize für ein Leben in Demokratie schaffen. Natürlich ist das mühselig. Deutschland hat 59 Soldaten verloren, und es gibt zigtausend Erkrankte mit einem Posttraumatischen Belastungssyndrom. Das ist ein riesiger Preis. Aber für den Frieden auf der Welt hätten wir noch mehr investieren sollen.
Leiden Sie selbst auch unter einem PTBS?
Man muss sechs Wochen nach dem Einsatz zu einer ärztlichen Untersuchung, bei der auch das Stresslevel abgefragt wird. Wenn es Auffälligkeiten gibt - ich hatte zum Beispiel Kopfschmerzen und habe mit den Zähnen geknirscht -, dann bekommt man fünf Sitzungen bei einem Psychologen. Der macht Tests und checkt, ob eine PTBS vorliegt. Bei mir war alles in Ordnung.
Mir kam es so vor, als wollten die Menschen und die Politiker hier in Deutschland von dem Krieg möglichst wenig wissen, ihn verdrängen. Wie haben Sie das als Soldat empfunden?
Als Soldat wird man allgemein oft verurteilt. Ich wurde in München auf dem Weihnachtsmarkt mal als Mörder beschimpft. Wenn wir zur Fluthilfe kommen oder in der Coronapandemie sind wir gern gesehen, aber ansonsten wird man auch in der Presse so dargestellt, als sei man ein Nazi, ein Mörder oder sonst was. Wenn man im Einsatz ist, gibt es aber schon die Anerkennung der Politik. Die Verteidigungsminister sind gekommen und haben gefragt: Was braucht ihr? Grundsätzlich hat man jedoch das Gefühl, dass der Posten für die Verteidigungsminister nur ein Sprungbrett ist. Ich habe in elf Dienstjahren vier verschiedene Minister erlebt. Als unsere Soldaten zurückkamen, stand am Flughafen kein einziger Politiker.
Konnte der Große Zapfenstreich am Mittwoch mit viel Politprominenz etwas davon wiedergutmachen?
Ich fand den schön. Ich verstehe aber auch den historischen Hintergrund und den Akt an sich. Dass im Anschluss daran von einigen Vergleiche zu NS-Zeiten gezogen wurden, bestätigt die Vorurteile gegenüber den Soldaten.
Was wünschen Sie sich von der Politik?
Ich würde mich freuen, wenn man die Bundeswehr wettbewerbsfähig ausstatten würde - mehr Geld bereitstellen, Material und Personal aufstocken würde. Und man sollte Dienst und Familie besser vereinbaren können. Ich pendele seit elf Jahren. Das wird mittlerweile zur Belastung. Die Politik könnte die Bundeswehr mehr in die Gesellschaft einbeziehen. Man muss Kasernen nicht am Stadtrand bauen ...
Wie sieht Ihre Zukunft aus?
Ich habe jetzt noch 15 Seiten meiner Bachelor-Arbeit vor mir. Dann hätte ich die Voraussetzung als Truppenoffizier im Sanitätsdienst. Das ist eine Variante, wie es für mich weitergehen könnte. Aber das mache ich nur, wenn ich in die Heimat kommen kann. Ansonsten gibt es viele Möglichkeiten, wenn ich nach 15 Jahren - für die ich mich verpflichtet habe - aus der Bundeswehr ausscheiden würde. Ich könnte den Berufsförderungsdienst in Anspruch nehmen. Es gibt zum Beispiel Eingliederungsscheine für das Landesverwaltungsamt oder das Finanzamt. Da wird man dann Beamter. Am liebsten würde ich aber Berufspolitiker werden.
Für welche Partei wollen Sie antreten?
Ich bin Mitglied der CDU in Ballenstedt. Zur Bundestagswahl habe ich mit Heike Brehmer Haustürwahlkampf gemacht. Sie hat auch gesagt: Wir müssen mal langsam junge Leute aufbauen. Und so ist es tatsächlich auch: Die CDU im Harz hat das Flair von alten grauhaarigen Männern im schwarzen Anzug. Es braucht jetzt junge Menschen, die ihre Meinung sagen, damit man ein bisschen gestalten kann. Doch die Parteien sind heutzutage leider nicht mehr sexy.
