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Flucht mit Ballon Maueropfer: Winfried Freudenberg ist das letzte Todesopfer der deutschen Teilung

Von Julius Lukas 05.02.2018, 11:00
Mit Stolz und Trauer: Reinhold Freudenberg erzählt von der abenteuerlichen Flucht seines kleinen Bruders Winfried.
Mit Stolz und Trauer: Reinhold Freudenberg erzählt von der abenteuerlichen Flucht seines kleinen Bruders Winfried. Andreas Stedtler

Berlin - Vom Grab Winfried Freudenbergs aus kann man Westdeutschland schon sehen. Blickt man an den Tannenspitzen vorbei und über die Dächer von Lüttgenrode hinweg, liegt dort die hügelige Landschaft des Vorharzes: Vienenburg, Goslar, Niedersachsen - alles ganz nah.

Für Winfried Freudenberg waren diese Orte der Sehnsucht jedoch sein Leben lang so fern wie der Mond. Lüttgenrode lag im Sperrgebiet. Die einstige innerdeutsche Grenze zwischen BRD und DDR war nur wenige hundert Meter entfernt. Freudenberg wollte sie überwinden. Der Versuch kostete ihn das Leben.

Flucht über die Grenze mit einem Ballon: Winfried Freudenberg musste seine Frau zurücklassen

In der Nacht vom 7. auf den 8. März 1989 überquerte der Elektronikingenieur mit einem selbstgebauten Ballon in Berlin die Mauer. Seine Frau muss er am Boden zurücklassen, weil die Polizei die Flucht bemerkt. Nach stundenlanger Irrfahrt stürzt er im Morgengrauen über dem Westteil der Hauptstadt ab. Einen Monat zuvor war Chris Gueffroy beim Fluchtversuch an der Berliner Mauer erschossen worden. Freudenberg ist das letzte Todesopfer der deutschen Teilung.

Der kleine Friedhof von Lüttgenrode liegt etwas oberhalb des Dorfes. Am Grab von Winfried Freudenberg steht sein Bruder Reinhold. Er schaut auf den schwarzen Stein, der in einem Bett aus weißem Kies liegt. „Auf tragische Weise verunglückt“, steht als Inschrift darauf. „Mehr zu schreiben, hat uns die Staatssicherheit damals nicht erlaubt“, sagt Freudenberg. Verbitterung klingt in seiner Stimme mit - und auch Trauer. Nein, die Zeit, sie heilt nicht alle Wunden.

Auf die Frage, ob er die Geschichte seines Bruders erzählen würde, zögerte Freudenberg am Telefon. Seine Frau sagt, das Reden über die tragischen Ereignisse wühle ihn auf. Reinhold Freudenberg ist Landwirt. Er besitzt 450 Milchkühe und 500 Hektar Boden. Mit seinen 66 Jahren ist er noch immer jeden Tag im Stall oder auf dem Acker unterwegs. Freudenberg ist ein Mann der Arbeit, weniger der Worte. Doch über seinen Bruder, über „Winnie“, will er dann doch erzählen.

Der „verrückte“ kleine Bruder hat Gefahren nie gescheut

Winfried ist fünf Jahre jünger als Reinhold Freudenberg. Wenn der große über den kleinen Bruder spricht, kommt die Vokabel „verrückt“ häufig vor. Er sei ein Mensch gewesen, den das Extreme angezogen habe. „Gefahren hat Winfried nie gescheut, er hat sie gesucht.“ Mit nicht einmal drei Jahren fiel sein Bruder im Stall von einer Leiter als er den größeren Kindern hinterher jagte.

Mit Schädelbruch und schwerer Gehirnerschütterung lag er wochenlang im Krankenhaus. Als Schuljunge machte er eine Wildwasserfahrt mit einem Schlauchboot über die Ilse, die damals Hochwasser führte und wegen Lebensgefahr gesperrt war. Nach einem Disco-Abend verunglückte er mit dem Motorrad und lag zehn Tage im Koma. „Mein Bruder hatte schon sieben Leben“, sagt Reinhold Freudenberg. „Aber die reichten eben nicht aus.“

Nach seinem Ingenieur-Studium in Ilmenau (Thüringen) hält Winfried Freudenberg in seiner Heimat im Vorharz nichts mehr. „Er wollte größere Aufgaben haben.“ Deswegen ging er nach Ost-Berlin, denn größer ging es damals nicht. Doch in der Hauptstadt wechselt er oft den Arbeitsplatz. Der Bruder redet ihm ins Gewissen, sagt ihm, dass das so nicht gehe. Doch Winfried Freudenberg lässt sich nicht beirren. „Er meinte, dass die doch alle hinter dem Mond leben und er sich nicht weiter entwickeln könne.“

Im Herbst 1988 darf die Familie in den Westen reisen, zum 75. Geburtstag der Tante nach Bad Pyrmont (Niedersachsen). „Bei der Feier war Winfried gar nicht dabei, weil er die ganze Zeit großen Elektro-Firmen in der Gegend besuchte.“ Er lernte deren Produktion und Arbeitsweise kennen und merkte, wie weit seine Berliner Arbeitswelt dahinter zurück lag. Er kehrt zwar brav in den Osten zurück. Aber er muss damals gewachsen sein, nach dem Besuch der westdeutschen Betriebe: der Drang, auszubrechen.

Für den Fluchtplan mit dem Ballon wechselt Freudenberg sogar die Arbeitsstelle

Im Oktober 1988 heiratet Freudenberg. Seine Frau Sabine hatte er in Ilmenau kennen gelernt. Gemeinsam besuchen sie noch einmal Lüttgenrode. „Es war das letzte Mal, dass ich Winfried gesprochen habe“, erzählt der Bruder. Danach brach er den Kontakt zur Familie ab. „Wir dachten, dass er vielleicht gerade zu viel im Kopf hat - mit der Arbeit und so.“ Winfried Freudenberg beginnt zu dieser Zeit, am Fluchtplan für sich und seine Frau zu schmieden.

Er wechselt dafür erneut seinen Arbeitsplatz, um in den Bereich Gasversorgung des Energiekombinats zu kommen. Sein Plan: mit einem Ballon fliehen. Wochenlang kaufen seine Frau und er in kleinen Mengen Folie. Bahn für Bahn kleben sie eine 13 Meter hohe Hülle zusammen. Befüllen wollen sie ihr Gefährt, das statt eines Korbes nur ein Brett als Sitzgelegenheit vorsieht, mit Gas aus einer Reglerstation, die sich in einer Gartenanlage befindet. Durch seine neue Arbeitsstelle hat Freudenberg dort Zutritt.

7. Marz 1989: Ein Kellner entdeckt den Ballon und ruft die Volkspolizei

Der Fluchtplan ist genau durchdacht und die Geschichte sogar bereits an eine westdeutsche Zeitung verkauft. „Das Geld lag auf einem Konto in Bad Pyrmont, das mein Cousin eingerichtet hatte“, erzählt Reinhold Freudenberg. Jetzt wartet das Paar nur noch auch den richtigen Moment. Am 7. März bekommt Sabine Freudenberg dann Besuch von zwei Vertretern der Wohnungskommission, die eine Besichtigung machen wollen. Sie kann sie abwimmeln, doch das Paar ist aufgeschreckt: „Es konnte ja fast kein Zufall gewesen sein, dass gerade zu dieser Zeit jemand in die Wohnung will“, meint Reinhold Freudenberg. Ob das Fluchtvorhaben doch irgendwo durchgesickert ist?

Die beiden beschließen, noch in der Nacht zu fliehen. Sie packen alles zusammen und fahren zur Reglerstation. Gegen 1.30 Uhr ist der Ballon so groß, dass ihn ein Kellner entdeckt, der gerade von der Arbeit kommt. Er alarmiert die Volkspolizei. „Der Abflugort war aber so gewählt, dass sie den Streifenwagen kommen gesehen haben“, sagt Reinhold Freudenberg. Als sie die Sirenen sehen, bleiben den beiden nur noch wenige Minuten. Es sind die Momente, in denen das junge Paar entscheidet, dass nur Winfried fliegen wird. „Es wurde gesagt, dass das Gas im Ballon nur einen tragen konnte, vielleicht war aber doch auch etwas Angst dabei“, sagt sein Bruder.

Sie kappen die Leinen und der Ballon schwebt davon. Sabine Freudenberg kann fliehen, wird jedoch wenig später in ihrer Wohnung aufgegriffen, weil am Abflugort ihre Ausweispapiere gefunden werden.

Winfried Freudenberg und sein Ballon: Rätselhafter Absturz nach fünf Stunden über Berlin

Ihr Mann hatte eigentlich geplant, nur 30 Minuten in der Luft zu bleiben. Doch der Flug dauert länger. Über fünf Stunden schwebt Freudenberg über Berlin. Der Wind treibt ihn schnell in den Westteil. Warum er es nicht schafft, dort zu landen, kann nie ermittelt werden. Seltsam ist zudem, dass er über dem Flughafen Tegel sogar noch Ballast abwirft und so weiter steigt. Vielleicht, weil er die Lichter für einen Grenzposten hält oder um auf sich aufmerksam zu machen - geklärt ist das bis heute nicht.

Sicher ist, dass er in eine Höhe von mindestens 800 Metern aufsteigt, wo es eisig kalt ist. Dort treibt ihn der Wind Richtung Süden. „Vielleicht hatte er da schon sein Bewusstsein verloren“, sagt Reinhold Freudenberg. Gegen 7.30 Uhr fällt er über Zehlendorf zu Boden. Sein Ballon verfängt sich einige hundert Meter weiter in einem Baum. Die Absturzstelle befindet sich kurz vor Kleinmachnow, was bereits wieder in Ostberlin liegt.

Stasi-Mitarbeiter sitzen bei der Beerdigung in der ersten Reihe

Der Tod von Winfried Freudenberg erregt sofort große Aufmerksamkeit. Die DDR war bereits nach der Ermordung von Chris Gueffroy unter großen politischen Druck geraten. Die Staatssicherheit beginnt den Verwandten- und Freundeskreis zu durchleuchten. Auch Reinhold Freudenberg wird verhört und über mehrere Wochen intensiv beschattet. Selbst bei der Beerdigung sitzen Stasi-Mitarbeiter in der ersten Reihe.

„Die wollten natürlich herausfinden, was ich über die Flucht wusste“, sagt der Landwirt. „Aber ich hatte ja wirklich keine Ahnung von Winfrieds Plan.“ In dieser Zeit wird Reinhold Freudenberg auch schmerzlich bewusst, warum sein Bruder sich so plötzlich von seiner Familie abgewendet hatte. Es lag nicht nur daran, dass er mit seinen Planungen beschäftigt war. „Er wusste, dass auch die Angehörigen eines Geflüchteten mit Repressalien zu rechnen hatten“, sagt Freudenberg. „Winfried brach den Kontakt ab, um uns zu schützen“, sagt Reinhold Freudenberg. Und man merkt, er ist auch sehr stolz auf seinen Bruder. (mz)

Der Flucht-Ballon verfing sich in einem Baum in Zehlendorf, unweit der Grenze zu Ost-Berlin.
Der Flucht-Ballon verfing sich in einem Baum in Zehlendorf, unweit der Grenze zu Ost-Berlin.
ullstein bild/Stark-Otto