Lost Places in Sachsen-Anhalt Friedrichsbrunn: Wie es im alten DDR-Betriebsferienlager der Buna-Werke heute aussieht
Zehntausende Kinder aus Sachsen-Anhalt verlebten in Friedrichsbrunn zu DDR-Zeiten ihre Schulferien. Heute steht das Betriebsferienlager der Buna-Werke leer, die berühmte Hungertreppe ist überwuchert und die Gruppenbaracken im Wald beugen sich unter der Last der Jahre.
Friedrichsbrunn. - Es waren 110 Stufen, jedes einzelne Mal 110 Stufen hinauf, um einen Schluck zu trinken. Über den Appellplatz, vorbei an der Freilichtbühne, über zwei Absätze, und dort standen sie dann, die Thermosbehälter mit Tee, aus denen zehntausende Kinder Jahr für Jahr die Rettung vorm Verdursten zapften.
„Hungertreppe“ nannten die kleinen Feriengäste des Buna-Betriebsferienlagers im Harzörtchen Friedrichsbrunn den verhassten steilen Aufstieg, der auch ohne Durst dreimal am Tag zu bewältigen war: Frühstück, Mittagessen und Abendbrot gab es oben auf dem Berg, erst im alten, später dann im neuen Sozialgebäude, das erst kurz vor dem Ende der DDR fertig wurde.
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Mehr als drei Jahrzehnte später wehen die schweren roten Vorhänge behäbig im Herbstwind. Deckenplatten hängen müde aus ihren Fassungen, ein paar vergessene Kuscheltiere modern zwischen Adlerfarn dahin, der aus den Fugen wächst. Die Fensterhöhlen klaffen leer, Türen quietschen in den Angeln. In der Großküche faulen die Pfannen, in Büros stapeln sich noch kistenweise Lieferlisten, Lagerformulare und Abrechnungsbögen.
Ferne Erinnerungen an Zeiten, als im Ferienlager mit dem Ehrennamen „Erich Weinert“ pro Durchgang 800 Kinder zu Gast waren, über einen Sommer hinweg also rund 2.400. Untergebracht waren die Kinder in 43 Bungalows und sieben Bettenhäusern, beschirmt von Laubbäumen und gruppiert um einen großen Appellplatz.
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Legendär bei ehemaligen Ferienlagerkindern ist das, was unter den Acht- bis 14-Jährigen nur die „Hungertreppe“ hieß: 110 Stufen, die von den Unterkünften hinaufführten zum Speisesaal und zu den Thermophoren mit Tee. Wer Durst hatte, musste Treppensteigen.
Rostig und angeschlagen steht heute noch einer der rettenden Behälter neben der Treppe, die von einem umgestürzten Baum gesperrt wird. Das Geländer ist eingebrochen, die Stufen sind brüchig und von den Bänken an der Freilichtbühne, auf der früher es Kino und Theater gab, sind nur noch die Betonfundamente übriggeblieben. Grün bemoost, sehen sie aus wie ein Terrassenbeet, in dem junge Linden wachsen.
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Schon 1949 war hier das Pionierlager „Martin Andersen Nexö“ entstanden, 1953 übernahm der VEB Chemische Werke Buna das Gelände, das nun als eines von 48 Zentralen Pionierlagern geführt wurde. Anfangs schliefen Kinder und Betreuer noch in Zelten, später wurden feste Unterkünfte gebaut. Es gab Lagerolympiaden und Nachtwanderungen, im Gondelteich wurde gebadet, und es wurden Ausflüge zur Rosstrappe unternommen.
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Die Buna-Kinder blieben dabei nicht unter sich. Regelmäßig waren Delegationen aus der Sowjetunion, der ČSSR und Polen in Friedrichsbrunn zu Gast, einem Harzort, der 1774 auf Geheiß des Preußen-Königs Friedrich der Große gegründet worden war. Außerhalb der Ferien diente Friedrichsbrunn als Wehrerziehungslager: Teenager mussten hier Robben, Schießen und Marschieren lernen.
Bis zum Ende der DDR-Kombinate flossen Millionen in die rund zehn Hektar Land an der Klobenbergbaude. Ein neues Sozialgebäude mit Großküche war gerade fertig geworden, zwei neue Bettenhäuser feierten im Sommer 1990 Erstbezug. Doch ohne die Finanzspritze aus den Kassen des Chemieriesen, der nun der Treuhand gehörte, hatte das gewaltige Ferienobjekt keine Überlebenschance. 300 D-Mark hätten Eltern vor 30 Jahren zahlen müssen, um ein Kind zwei Wochen unterzubringen - da fuhren viele lieber nach Spanien, Österreich oder Ungarn.
Das Buna-Lager verfiel, es wuchs zu, die zum Teil aus Asbestplatten gezimmerten Hütten brachen zusammen. Investoren wurde gesucht, aber nicht gefunden. Es gab Zwangsversteigerungen und Eigentümerwechsel, ausbleibende Zahlungen und Berechnungen, dass ein Abriss 1,8 Millionen Euro kosten würde.
Zuletzt ging das Gelände vor einigen Jahren bei einer Auktion für 186.000 Euro an einen unbekannten Käufer. Heute ist das Trümmergebiet Ausflugsziel nicht nur für Ruinentouristen, sondern auch für ehemalige Ferienkinder, die staunend durch den Wald ihrer Erinnerungen wandern.