RAF in der DDR RAF in der DDR: Herbst 1977 - Als der Terror nach Köthen floh

Herbst 1977: Als das „Kommando Siegfried Hausner“ kurz nach 17 Uhr an diesem 5. September 1977 in Aktion tritt, beginnt das blutigste Kapitel der Geschichte der selbsternannten Stadtguerilla Rote Armee Fraktion (RAF). In den folgenden sechs Wochen halten zwei Dutzend linksextremer Desperados Westdeutschland in Atem.
Am Ende der im RAF-Jargon „Offensive 77“ genannten Aktionen sind elf Menschen tot, darunter drei Terroristen. Neue Sicherheitsgesetze werden erlassen und eine neue Generation von Terroristen tritt an die Stelle der RAF-Gründer und ihrer bei der Befreiung gescheiterten Nachfolger. Die 44 Tage, die als „Deutscher Herbst“ in die Geschichte eingehen, werfen aber auch Schatten bis in die DDR, Schatten, die bis in die Gegenwart reichen.
Denn so sehr sich die DDR offiziell auch aus dem von der RAF zum Bürgerkrieg hochstilisierten Kräftemessen zwischen linken Guerilleros und Staatsmacht heraushält, so sehr versucht sie gleichzeitig, die RAF im Blick zu behalten.
Bereits sieben Jahre zuvor, kurz nach der Befreiung des wegen Brandstiftung in einem Kaufhaus verurteilten RAF-Anführers Andreas Baader, die als Gründungsakt der RAF gilt, sucht Ulrike Meinhof, der zweite Kopf der damals noch „Baader-Meinhof-Gruppe“ genannten Gang, Kontakt zum Ministerium für Staatssicherheit. Der Kern der späteren RAF ist gerade auf dem Weg in ein Ausbildungscamp der palästinensischen Fatah, die als sogenannte Befreiungsbewegung enge Verbindungen zur DDR pflegt.
Späteren Aussagen ihres Mannes zufolge bittet Meinhof damals schon um Asyl in der DDR. Andere Quellen glauben, die frühere Journalistin habe ausloten wollen, wie groß die Unterstützung der DDR für Anschlagspläne auf den gemeinsamen Klassenfeind im Westen sein würde.
Der Mord der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) an Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer war der blutige Höhepunkt der Terrorserie, die im Jahr 1977 die Bundesrepublik erschütterte.
7. April: Generalbundesanwalt Siegfried Buback wird von einem RAF-Kommando erschossen.
30. Juli: Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto wird in seinem Haus in Oberursel ermordet.
5. September: Schleyer wird in Köln von einem RAF-Kommando entführt. Mit der Geisel sollen elf RAF-Häftlinge freigepresst werden.
13. Oktober: In Absprache mit der RAF kapern vier Palästinenser die Lufthansa-Maschine „Landshut“ mit 91 Menschen an Bord. Sie bekräftigen die Forderungen der Schleyer-Kidnapper.
18. Oktober: Die Anti-Terror-Einheit GSG 9 stürmt in Mogadischu (Somalia) die Maschine und befreit die Geiseln. Bei der Aktion sterben drei Terroristen. Die RAF-Häftlinge Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe nehmen sich in Stuttgart-Stammheim das Leben.
19. Oktober: Die Leiche des entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer wird gefunden.
Winzig. Zwar pflegen alte Klassenkämpfer wie MfS-Chef Erich Mielke, der als junger Mann im Auftrag seiner Partei selbst einen Polizisten erschossen hat, durchaus einen romantischen Blick auf revolutionäre Gewalt. Doch „Anarchos“ wie die späteren RAF-Mitglieder widersprechen aus Sicht der DDR-Führung dem wissenschaftlichen Kommunismus, nach dem eine Revolution nicht beliebig herbeigebombt werden kann.
Sie am Versuch hindern will aber auch niemand. Als das RAF-Mitglied Hans-Jürgen Bäcker im Sommer 1970 nach der Rückkehr aus dem Terrorcamp in Berlin-Schönefeld landet, bittet ihn die Stasi beiseite. 24 Stunden lang gibt der gelernte Grubenelektriker Auskunft. Er gesteht, dass er kein Problem hätte, in Westberlin Polizisten zu erschießen. Die Stasi-Männer informieren Mielke. Bäcker bekommt seine Pistole zurück und darf weiterreisen. Westberliner Behörden erfahren nichts.
Dabei bleibt es auch, als nach dem Deutschen Herbst eine junge Frau in
Schönefeld eintrifft. Inge Viett gehört zur ersten Terror-Generation, sie gibt sich zu erkennen und wird an Stasi-Oberst Harry Dahl weitergereicht. Der signalisiert, dass die DDR die Terroristen nicht behindern oder verraten werde, jedoch nur so lange, wie die von Anschlägen in der DDR absähen.
Ein Abkommen, auf das die Terrorgruppe, die den real existierenden Sozialismus verachtet, zwei Jahre später zurückkommt. Viett hat sich inzwischen mehrfach mit Stasi-Leuten getroffen. Es ist ein Vertrauensverhältnis entstanden, das die RAF nutzt, um Hilfe zu erbitten: Neun Mitglieder der Gruppe wollen aussteigen. Gesucht wird ein sicheres Rückzugsgebiet in Afrika oder dem Nahen Osten.
Es wird dann der ganz nahe Osten. Susanne Albrecht, in der BRD wegen Beteiligung an der Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto gesucht, landet in Köthen. Silke Maier-Witt verschlägt es nach Hoyerswerda, Viett wenig später nach Dresden und, als sie dort aufzufliegen droht, nach Magdeburg.
Das MfS hat für alle Aussteiger Tarnidentitäten beschafft, die allerdings sind nicht hundertprozentig sicher. Mehrfach landen bei bundesdeutschen Behörden glaubwürdige Hinweise von DDR-Bürgern auf Westbesuch, die aufgrund von Fernsehberichten und Fahndungsbildern im Westfernsehen behaupten, drüben in der DDR Nachbarn und Arbeitskolleginnen als RAF-Mitglieder erkannt zu haben.
Doch das Interesse der bundesdeutschen Behörden, diesen Tipps auf den Grund zu gehen, hält sich
in Grenzen. Offiziell vermutet das Bundeskriminalamt die von der Bildfläche verschwundenen RAF-Leute im arabischen Raum. Dort wird mit Hochdruck und Unterstützung von Interpol nach den Verschwundenen gesucht. Till Meyer, ein Ex-Terrorist, der 1986 aus der Haft entlassen und 1992 als Stasi-IM enttarnt werden wird, strickt bei einer alternativen Zeitung mit am Märchen: In Syrien seien die Genossen untergetaucht, schreibt er, und liefert den Fahndern damit einen Grund, nicht in die DDR zu schauen.
Das ist allen ganz recht so. Denn würden die Flüchtigen in der Arbeiter- und Bauernrepublik entdeckt, drohte diplomatischer Ärger. Die DDR stände blamiert da, die Bundesrepublik müsste Konsequenzen ziehen. Die gerade auftauenden Beziehungen beider deutscher Staaten kippten zurück in die dunkelsten Zeiten des Kalten Krieges.
Niemand will das. So können Ralf Friedrich und Sigrid Sternebeck, Albrecht, Monika Helbing, Maier-Witt, Werner Lotze, Viett und Henning Beer unbehelligt an einem neuen Leben bauen. Die Mörder und Bankräuber sind jetzt Fotografin, Arzt, Einkaufsleiter und Ferienlager-Organisatorin. „Ich ging blind und offen in die DDR und fand mich nicht eingesperrt“, hat Inge Viett später berichtet.
Die Frau, die die Flucht der Terroristen in den Osten organisiert hat, fliegt nur wenige Monate nach dem Zusammenbruch der DDR ebenso auf wie die anderen Aussteiger. Aus der Anarcho-Aktivistin, die in Paris einen Polizisten so schwer verletzt hat, dass er nie wieder gesund wurde, ist in sechs DDR-Jahren ein guter DDR-Bürger geworden. Noch zur Volkskammerwahl im März 1990 engagiert sich die 45-Jährige eifrig als Wahlhelferin. (mz)