„Das ist ein Mensch!“ Sommermärchen in Halle: Riesenpuppe Gulliver begeistert auf dem Markt
Hallesches Sommermärchen: Ein 20 Meter hoher Gulliver taucht auf dem Marktplatz auf, um eine Woche in der Stadt zu bleiben. Ein Spektakel für Tausende. Besser geht’s nicht.

Halle/MZ. - Nichts fuhr mehr, aber alles lief. Und das wie am Schnürchen, genauer: an vielen langen Schnüren, an deren Enden sich am Sonnabendabend der mit Helium aufgepumpte Riese Gulliver 22 Meter hoch in den Himmel über Halle erhob. Das gab es noch nie. Auch nicht für die Havag. Angeblich das erste Mal seit 30 Jahren hatte die Hallesche Verkehrs AG den Strom aus ihren Leitungen genommen, damit sich der große Gast nicht gefährlich in den Leitungen verfängt. Oder die Helikopter-große Fliege, die vom Ratshof aus zum Roten Turm zu gleiten hatte, um den Seefahrer aus seinem Schlummer zu wecken.
Und um schließlich das zu erleben: Einen vieltausendfach öffentlich geteilten Sommerabend voll von Magie und aufgekratzter, generationenübergreifender, grundverspielter Friedfertigkeit. Halle zeigt, dass eine Stadt lächeln kann.
Riesenpuppe Gulliver in Halle - Möwenrufe auf dem Markt
Das Puppentheater Halle machte es möglich, das – finanziert von Bund, Land und Stadt – diesen Abend aus Anlass seines 70. Geburtstages als Auftakt einer Festwoche seinem Publikum und seiner Stadt schenkte, ermöglicht von der französischen Theatercompagnie Plasticiens Volants, die nach einer Idee des Dessauer Schriftstellers Andreas Hillger Jonathan Swifts weltberühmte Romanfigur in Halles Mitte brachte.
Dass etwas in der Luft lag, war am Sonnabend von 18 Uhr an klar. Weil da etwas vor dem Roten Turm lag, in das die besondere Luft gepumpt wurde. Aber nicht nur. Auf Klappleitern tauchten Bedienstete des Staates Liliput auf, an dem Gulliver gestrandet war, und dessen königliche Gesetze durch Lautsprecher verkündet wurden. „Wer den Frieden stört, wird erschossen.“ Oder: „Es gilt als Verbrechen, das Ei an der Spitze aufzustechen.“ Liliput ist ganz klar kein demokratischer, sondern ein durchgeknallt monarchischer Staat, dem man nicht einfach in die Passkontrolle geraten will.
Oder hineinstranden, wie Gulliver. Zuerst ist er nur ein Gewoge aus einer Art von farbiger Ballonseide, die auf und ab wellt. Ein Rascheln, ein Blähen. Aus Lautsprechern dringen Möwenrufe und -schreie. Schiffsglocken läuten. Das passt bestens. Halle am Meer. Halle am Strand. Und Gulliver, der immer mehr an Volumen gewinnt – unter starker Anteilnahme der Bevölkerung. Die Nasenspitze steht als erstes: Um 18.05 Uhr nimmt sie Witterung auf. Dann die Haare, dann die Ohren. Aus der Menge ruft ein Kind: „Das ist ein Mensch!“

In der Tat. Um 18.17 Uhr stehen die Stiefelspitzen. Da liegt Gulliver freilich noch flach auf dem Rücken und es ist nicht völlig klar, ob er zu voller Stärke findet. Die Finger flattern auf ab, Luftstöße eilen durch den Körper, der an- und abschwillt. Es ist das zur Welt kommen einer Figur, das hier zu erleben ist.
Lemuel Gulliver, Wundarzt zur See, dem Namen nach eine gutgläubige (englisch: gullible), naive Person. Mit verstörter Aufmerksamkeit blickt sie auf die gesellschaftliche Mitwelt, die sich ihr in den Gegenden offenbart, die sie bereist. Nun also in Halle, der Kulturhauptstadt von Liliput, durch die Gulliver von den Akteuren von Plasticiens Volants geführt wird.
Einfach mal locker lassen
Die sind Weltberühmtheiten ihrerseits, die schon Olympische Spiele eröffneten. Akrobaten, die Momente bieten, die jeder Stadt gut tun. Weil Städte Momente von einmal nicht düster, sondern heiter fiktionalisierender Öffentlichkeit brauchen, um runterzukommen, um locker zu lassen, zu lachen.
Über die sensationelle Fesselballon-große Fliege etwa, die da zehn vor acht plötzlich über den Menschenmassen auf dem Marktplatz torkelt, gleitet und kreist. Die mit ihrem langen Rüssel an Fassaden und Fenster stupst. Die Köpfe der Menschen mit ihren sechs Beinen streift, den roten Rüssel voran. Das allein hätte den Abend gelohnt, das Urtier über Halle.
Aber da liegt Gulliver noch auf dem Rücken, schon voll von Kraft, aber mit gelben Bändern gefesselt. Plötzlich gilt er als Untertan von Liliput, so behaupten es die Minister des Königs, der begrüßt wird: „Hat der Allerwerteste ergiebigst gethront?“ Offensichtlich. Denn Majestät haben schon, wie er kundtut, Einfälle! Etwa den, dass der neue Untertan einen Feind „einfach platt machen“ könnte.
Der Chor singt: Halleluja!
Platt ist Gulliver da bereits nicht mehr, der zuerst mehr lallt als spricht. Aber er kommt zu sich. Und herauf. Erst sitzt er, dann steht er. Das Publikum ruft tausendfach erst: Oh! Dann: Ah! Dann: Uh! Dann: Ei, ei, ei, ei! Und schon steht da: ein Mensch! Roter Haarschopf, freundliches Gesicht, roter Rock, braune Stulpenstiefel. Bis zur Uhr des Roten Turmes erhebt er sich. Der Opernchor singt Halleluja. Der König staunt. Das Volk hebt seine Smartphones in die Höhe.

Es braucht kein ausgefeiltes Skript für so einen zauberhaften Abend. Dass da nur etwas völlig Unmögliches möglich gemacht wird, das ist mehr, als zu erwarten ist. Gulliver erhebt sich. In leichten, wogenden Bewegungen geht er aufrecht. Ordner müssen die Zuschauer zur Seite schieben, um dem Riesen eine Gasse zu bereiten. „Gehen Sie weg von Gulliver!“
Der ist gekommen, um zu bleiben. Bis 22. Juni zeigt er seine Abenteuer an verschiedenen Schauplätzen der Stadt, begleitet von allen Sparten der Bühnen Halle. Und am 22. Juni am Salinemuseum noch einmal kostenlos.
Die Gulliver-Woche im Internet: www.puppe70.de
Besser geht’s nicht. Am Ende des Sonnabends strömten die Menschen zwischen den Beinen des Riesen hindurch, mit dem sie gemeinsam zum Hallmarkt schritten. Die gespaltene als spielende Gesellschaft. Wer es nicht erlebt hat, wird es sich erzählen lassen.