Der Schriftsteller Reiner Kunze wird 90 Jahre alt Herz und Gedächtnis
Seine Bücher ermutigten und prägten Generationen in Ost und West:Der Schriftsteller Reiner Kunze wird 90 Jahre alt.
Halle/MZ - Vor sieben Jahren reiste Reiner Kunze gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth vom bayrischen Erlau aus in die Ukraine. Unter dem Titel „sensible wege“ war in Czernowitz und Kiew die erste ukrainische Werkauswahl des Dichters auf den Weg zu bringen, übersetzt von dem Literaturwissenschaftler Petro Rychlo.
Aber Kunze reiste nicht allein in eigener Sache. Er folgte den Spuren des Dichters Paul Celan (1920-1970) und der Lyrikerin Rose Ausländer (1901-1988), in deren Herkunftslandschaft er das literarische Zwiegespräch suchte. Entstanden ist eine Folge von sieben Ukraine-Gedichten, die im jüngsten Gedichtband des Lyrikers erschienen sind: „die stunde mit dir selbst“, veröffentlicht 2018.
„Ukrainische Nacht“ heißt das erste, Rose Ausländer und Paul Celan nachrufende Gedicht, das beginnt: „Das land, / verstümmelt, / veruntreut, / verraten“. Ohne direkt auf Russland zu sprechen zu kommen, holt Reiner Kunze es in den Text: „Doch weiß man hier, der tod / kam nicht aus Deutschland nur, er kam / mit zweierlei gesicht, / und riesig ist das land, wo man / ihm blumen steckt und ruhmeskränze flicht“.
Der ganze Kunze in einem Band
Das war sechs Jahre vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geschrieben, der den zum Zeitpunkt des Überfalls bereits 88-jährigen Dichter sehr erschütterte, wie der Kunze-Freund Heiner Feldkamp vor einem Jahr in der Süddeutschen Zeitung mitteilte. Zu einem Zeitpunkt, als der Autor der „sensiblen wege“ sich schon längst aus der großen Öffentlichkeit zurückgezogen hatte.
Feldkamp sprach von Reiner Kunzes Ukraine-Gedichten als einem „poetischen Kommentar, der sich einbrennt ins Herz und ins Gedächtnis“. Die Verse zeigen die vertraute Genauigkeit und Entschiedenheit in Bild, Ton und Idee, die der Büchnerpreisträger von 1977 in die deutsche Gegenwartslyrik gebracht hat.
Etwa im „Revolutionsgedicht“, das auf die Nachricht antwortet, dass im Kiewer Winter 2013/14 ein in den Landesfarben angestrichenes Klavier zwischen den Fronten stand: „Ein blauer himmel über einem weizenfeld – so stand / bei minus zwanzig grad am straßenrand / das klavier // Und die einen spielten / die hymne und Chopin, / und die andren zielten / auf die hymne und Chopin“.
Die Ukraine-Gedichte sind jetzt in einer erweiterten Neuausgabe der „Gedichte“ in einem Band zu finden, die um die Texte der jüngsten Lyrikbände „lindennacht“, „die stunde mit dir selbst“ und „Wohin der Schlaf sich schlafen legt. Gedichte für Kinder“ ergänzt wurde.
Schönheit und Freiheit
Der ganze Kunze in einem Band. Das Werk eines Autors, der immer darauf beharrte, nach den 1950er Jahren nie ein politischer Dichter gewesen zu sein. Keiner, der agitierte. Sondern, wie er zwei Jahre nach seiner 1979 erzwungenen Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik sagte: „Ich stelle mich dem Politischen dort, wo es mich als Autor stellt, wo es ins Existenzielle hineinragt“.
Dieses politische Existenzielle hat Reiner Kunze, der sächsische Bergarbeitersohn, der über den Parteijournalismus zur Literatur, über den 1968er Austritt aus der SED in die Opposition zu jedweder Diktatur gelangt war, in solcher lebensweltlichen Klarheit und Wahrhaftigkeit wie kein zweiter deutscher Dichter seiner Generation erfasst.
Klarheit und Entschiedenheit, bei zeitgleicher Zartheit, Spielfreude und Bilderlust, die sich aus dem tschechischen Poetismus speiste: Der Reclam-Auswahlband „Brief mit blauem Siegel“ (1973) war in zwei nicht beworbenen, aber sofort vergriffenen Auflagen von jeweils 15.000 (!) Exemplaren die wahrscheinlich erfolgreichste Lyrik-Edition eines Autors in der DDR. Der nur im Westen veröffentlichte Prosaband „Die wunderbaren Jahre“ (1976), der den repressiven Schulalltag in der DDR schilderte, kreiste im Osten in Abschriften, genauso wie die vor 1989 im Westen veröffentlichten Gedichtbände. Reiner Kunzes Literatur war in der DDR und ist auch heute ein Kompass, um unter widrigen äußeren Umständen bei Verstand zu bleiben, Sinn und Eigensinn zu behaupten. Und bei alldem war er, was für einen Lyriker selten ist, ein Autor, der immer volle Säle garantierte. In Ost und in West. Das Publikum strömte überall. Wie sehr, das war in der Region zuletzt bei Reiner Kunzes großer Lesung im Januar 2012 im Elisabeth-Gymnasium in Halle zu erleben. Die Aula bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Dichter las im Stehen. Sichtbar sein, kenntlich sein. Das war die Dichterkultur der 1960er Jahre.
Seit 2006 betreibt der Autor die Reiner und Elisabeth-Kunze-Stiftung, die nach dem Tod des Paares dessen Wohnhaus in eine „Stätte der Zeitzeugenschaft“ umgestalten soll. „Schönheit, neben der Freiheit meine größte Sorge“ zitiert die Satzung den Schriftsteller Albert Camus. Kein Museum soll entstehen, sondern ein Archiv der zeithistorischen Fakten – und der Poesie. An diesem Mittwoch wird Reiner Kunze 90 Jahre alt.
Reiner Kunze: Gedichte. Erweiterte Neuausgabe. S. Fischer, Frankfurt am Main 2023, 496 Seiten, 30 Euro.