„Diesseits der Mauer“: Historikerin Katja Hoyer erfindet das Bild einer glücklichen DDR-Gesellschaft Endlich sorgenfrei
Der nächste Ostbestseller: Katja Hoyer will die DDR aus dem Mauer-Schatten holen. Ist das noch Geschichtsschreibung oder schon Revisionismus?
HALLE/MZ - Die DDR-Kampfgruppen? Auch ein „Versprechen von Kameradschaft und Abenteuer“. Die NVA? Eine „Chance“ für jene, „die sich nach Sinn und Zugehörigkeit sehnten“. Die lästigen Schuleinübungen in die sozialistische Produktion? „Anspruchsvollere Fächer“. Sogar der im Ostblockvergleich einzigartig hohe Alkoholkonsum in der DDR – 1988 pro Kopf durchschnittlich 142 Liter Bier und 16,1 Liter Hochprozentiges, doppelt so viel im Westen – erscheint urplötzlich im hellen Licht. Denn, schreibt die deutsch-englische Historikerin Katja Hoyer: „Die meisten Ostdeutschen tranken also nicht, um ihre Sorgen zu vergessen, sondern deshalb, weil es für sie zu wenig Anlass zur Sorge gab.“
Man reibt sich die Augen: Die DDR ein kollektives Sanssouci? Also eine Gesellschaft ohne Sorgen? So unbefangen wurde selten über den DDR-Alltag geurteilt wie in dem von dem bislang grundbürgerlich liberalen Hamburger Verlag Hoffmann und Campe (Monika Maron, Wolf Biermann) als „bahnbrechend“ beworbenen erzählenden Sachbuch „Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990“.
Das Ziel: DDR, aber normal
Das Buch ist eine Übersetzung aus dem Englischen, in dem es unter dem Titel „Beyond the Wall. East Germany 1949-1990“ erschien – Jenseits der Mauer. Verfasst von der 1985 in Wilhelm-Pieck-Stadt Guben geborenen, heute in London lebenden NVA-Offizierstochter (ein Umstand, den sie selbst thematisiert), avancierte das Buch in England zum Bestseller. Ein Weg, den das Werk auch in Deutschland nimmt. Jetzt erscheint es in den Niederlanden.
Der erste Impuls des Buches scheint klar: Es geht – wie im Fall von Dirk Oschmanns West-Polemik – um Anerkennung. Für Hoyer aber geht es um mehr: nicht nur um das Heute, sondern von hier aus auch um das Gestern, sozusagen um die Erfindung einer „DDR, aber normal“. Ihr Buch, schreibt sie, soll dazu beitragen, „die deutsche Obsession der Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln, den Zwang, die eigene Geschichte ,überwinden’ zu wollen“.
Indem Hoyer in ihrem Buch konsequent Diktatur und Alltag trennt, erzeugt sie das Bild einer glücklichen DDR-Mehrheitsgesellschaft, in der die Menschen „liebten, arbeiteten, in den Urlaub fuhren“. Das Problem ist nur: Die Gesellschaft in einer Diktatur ist nicht von der Diktatur zu trennen. Es gibt kein öffentliches „normal“.
Einseitig, fehlerhaft, interessegeleitet
Eine DDR ohne Mauer, die Hoyer heute zu sehen wünscht, wäre nicht eine andere, sondern gar keine DDR gewesen. Nichts, aber auch gar nichts an der DDR-Gesellschaft ist ohne die Zwänge der Diktatur zu begreifen. Nicht einmal die von Hoyer als „prägende Band für die DDR-Rockmusik“ gefeierten Puhdys. Prägend für den Ostrock waren übrigens nicht die wiedergängerhaften System-Ossis, sondern die Akteure der 1975 verbotenen Rockband Renft.
Dabei ist es nicht so, dass die Autorin die DDR vordergründig verharmlosen würde. Einmal bezeichnet Hoyer die DDR als einen der „effizientesten und rücksichtslosesten Polizeistaaten aller Zeiten“. Hingegen hintenrum deutet sie einseitig, fehlerhaft und eindeutig interessegeleitet ihr Material, das sie vorzugsweise aus leicht zugänglichen Büchern anderer Autoren zieht – bis auf einige von ihr geführte Interviews unter anderen mit Egon Krenz, Frank Schöbel und Gregor Gysi. Systemgegner bleiben außen vor.
Einseitig: Weil er sie mutmaßlich als Normstörer stört, beschreibt Hoyer den 1976 ausgebürgerten Sänger Wolf Biermann herablassend als „labil“, „naiv“ und „seelisch etwas vorbelastet“. Als einen Künstler, der in der DDR weder „ein breites Publikum erreichen oder gar namhafte Personen oder bestehende Oppositionsgruppen mobilisieren“ konnte. Das ist schon ehrabschneidend. Biermanns Wirkung in die Opposition war und ist vital. Kein zweiter Sänger wirkte in so viele verschiedene Milieus hinein.
Fehlerhaft: Der von Hoyer als sowjetisches Großjunker-Opfer vorgeführte Herzog Joachim Ernst von Anhalt, der 1947 im NKWD-Sonderlager Buchenwald starb, war keinesfalls ein „entschiedener Gegner der Naziherrschaft“, sondern, wie auch seine Ehefrau, Mitglied der NSDAP.
Interessegeleitet: Weil Hoyer der von der SED betriebene Menschenhandel mit politischen Gefangenen in ihrem DDR-Normal-Bild offenbar nicht gefallen kann, unterstellt sie, dass an diesem Geschäft auch die Gefangenen selbst „oftmals aktiv mitwirkten“ – eine zynische Täter-Opfer-Umkehr.
Wer ist die „Arbeiterklasse“?
Ist das noch Geschichtsschreibung oder schon Revisionismus? In Hoyers Bild der DDR-Gesellschaft bleibt die Massenpartei SED völlig äußerlich. Die von ihr als DDR-Gewinner oft – und naiv – gepriesene „Arbeiterklasse“ wird an keiner Stelle definiert. Dass das DDR-Schulsystem sozial durchlässiger gewesen sei als das der BRD bleibt eine Behauptung. Statistisch wird da nichts belegt.
Warum hat so ein Buch Erfolg? Erstens, es antwortet auf erlebte Zurückweisungen. Zweitens, das DDR-Autoritäre zieht wieder Sympathien an. Drittens, es gibt wenig Anderes. Bis auf Stefan Wolles Buch „Die heile Welt der Diktatur“ (1998) gibt es keine populäre Alltagsgeschichte der DDR. Das ist die Lücke, in die Hoyer springt. Nur müsste, wer historiografische „Normalität“ erzeugen will, alles auf den Tisch legen, und nicht nur das, was einem selbst weltanschaulich in den Kram passt.
Statt dessen hält Katja Hoyer ihre Leser effektheischend Kapitel für Kapitel mit reportagehaft personalisierten Storys auf Trab, die im Zieleinlauf das Bild einer homogenen kollektiven Ost-Identität behaupten, die es weder vor noch nach 1989 gegeben hat. Erst dort, wo sich das Identitäts-Phantom auflöst, wäre von einer gültigen DDR-Gesellschaftsgeschichte zu reden – nicht jenseits oder diesseits, sondern mit der Mauer.
Katja Hoyer: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990. Aus dem Englischen von Henning Dedekind und Franka Reinhart. Hoffmann und Campe, Hamburg, 592 Seiten, mit Abb., 22,99 Euro