Neuer Roman von Kerstin Hensel Der Schmerz als Glück auf Erden
Voller Märchenmotive, aber ohne glückliches Ende:Kerstin Hensels „Die Glückshaut“ ist ein virtuoses Spielmit Fakten und Fiktionen.
Glück in seiner beständigsten Form, so heißt es landläufig, sei im Grunde die Abwesenheit von Unglück. Danach gefragt, ob es so etwas wie Glück überhaupt geben könne, antwortet Sigmund Freud in seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930): „Die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.“ Die Aussage verliert auch dann nicht an Überzeugungskraft, wenn man den religiös motivierten Terminus „Schöpfung“ durch Darwins Begriff „Evolution“ ersetzen wollte.
Kerstin Hensels neuer Roman „Die Glückshaut“ kann als literarische Bekräftigung der Freud’schen These gelesen werden, mag der Titel auch anderes verheißen. Es ist eine berührende Geschichte, die aus drei Teilen besteht, mehr als zwei Jahrhunderte umspannt, im Erzgebirge beginnt und in Chemnitz endet und Motive aus der regionalen Sagenwelt und Grimms Märchen zitiert. So hat nicht nur das tapfere Schneiderlein hier einen unglücklichen Auftritt, sondern allenthalben taucht auch die Siebenzahl auf. Ein virtuoses Spiel mit Fakten und Fiktionen, das dem Motto folgt: „Alles erfunden, alles erfahren!“
Man schreibt das Jahr 1804, als im Erzgebirgsdorf Pfaffroda Minna Leichsenring geboren wird. Mit einer Glückshaut, die ihrer Trägerin – dem Volksglauben nach – verheißt, ein Sonntagskind und also vom Schicksal zeitlebens begünstigt zu sein. Was indes von dem Umstand konterkariert wird, dass das Mädchen keine schöne Kindheit hat und im Alter von neun Jahren von seiner Mutter, zu der es ein ähnlich schlechtes Verhältnis hat wie zu seiner Großmutter, beim Pilze suchen ausgesetzt wird.
Das Zwergenhäusel im Wald
Der Familie Leichsenring ist das eigene Kind so wenig geheuer wie allen anderen Einwohnern des Dorfes Pfaffroda: Weil Minna intelligent ist und auch nicht im heimatlichen Dialekt knarzt, sondern von Anbeginn „albernes Huuchdeitsch“ spricht. Fortan muss sich die Waise allein durchschlagen. Dort, wo der Wald am tiefsten ist, findet sie ein Häuschen, das von sieben kleinen Kerlen bewohnt wird, die Zipfelmützen tragen und im Bergbau tätig sind. Eine Aufgabe, die sie so ermüdet, dass sie sich nur durch durch Aufputschmittel wachhalten können.
Ähnlich wie Schneewittchen übernimmt es Minna, sich um die Sieben und deren Haushalt zu kümmern. Da sie die Bergleute überlebt, dient deren „Zwergenhäusel“ ihr so lange als Unterschlupf, bis es, vom Schwamm zerfressen, in sich zusammenfällt. Da ist der Sohn, dem Minna das Leben geschenkt und Johannes genannt hat, längst entschwunden. Fortan beginnt für die gütige, von ihrer Umwelt jedoch für verrückt gehaltene Minna eine Odyssee durch die Erzgebirgslandschaft. Ihr einziger Wunsch: Ihren Sohn zu finden, der sie einst im Streit verließ.
Nachdem die greise Minna einige Zeit in der Nervenheilanstalt Sonnenstein zubrachte, gelingt es ihr im Alter von 100 Jahren, Johannes, der es auf märchenhafte Weise zum erfolgreichen Geschäftsmann brachte, ausfindig zu machen. Und zwar in Chemnitz, wo die Autorin 1961, als es Karl-Marx-Stadt hieß, geboren wurde.
Man müsste schon sehr herzlos sein, wollte man kein Mitgefühl mit dieser Minna Leichsenring haben, die wirklich allen Grund hätte auszurufen: Mich muss Gott sehr lieben, wenn er mich derart straft.
Der Sonnenstein ist auch das verbindende Motiv zum zweiten Teil des Romans, in dessen Zentrum Arno, der Nachkomme von Johannes Leichsenring, und seine Frau Wilma stehen, die sich 1940 bei ihrer Tätigkeit in der Pflege- und Heilanstalt Sonnenstein und damit zu einer Zeit kennenlernten, als die bei Pirna gelegene Einrichtung eine Tötungsanstalt der Nationalsozialisten für psychisch Kranke und geistig Behinderte war.
Das Erbe der Leichsenrings
Aus dieser Geschichte einer freudlosen Verbindung, in die das Märchen vom süßen Brei verwoben wird, geht neben einem Sohn auch Tochter Felizitas hervor, die sich später als alleinerziehende Mutter von Drillingen in Chemnitz durchschlagen muss. Im Jahr des Mauerfalls stirbt sie an den Folgen ihrer Alkoholsucht. Ihre beiden Söhne Rico und Ronny sind missraten, nur Tochter Helma ist ein Lichtblick. Die erbt 2021 die verfallene Villa ihres Vorfahren Johannes Leichsenring, Minnas Sohn. Mit der ruinösen Immobilie ist ihr jedoch so wenig Glück beschieden wie mit ihrer Tochter Elise. Die Pubertierende hasst ihre Eltern ebenso wie ihre Violine, deren Saiten sich auf märchenhafte Art immer wieder von allein erneuern, wenn Elise sie von dem Instrument reißt. Dass sich das Mädchen eines Tages in der psychiatrischen Klinik Sonnenstein wiederfindet, passt da ins Bild.
Minnas Erkenntnis, auf Seite 68 zu lesen, darf als Leitmotiv für alle Protagonisten verstanden werden: „Der Schmerz wird wohl mein Glück auf Erden sein.“ Insofern ist Kerstin Hensels Roman dem Mythos näher als dem Märchen. Denn im Gegensatz zum Märchen kennt der Mythos kein gutes, nur ein tragisches Ende. „Die Glückshaut“ ist ein Jahrhundertpanorama über einfache Menschen und die Last, die sie zu tragen haben.
Kerstin Hensel: Die Glückshaut. Quintus Verlag, 176 Seiten, 22 Euro