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Ost-West-Klassiker Charly Hübner über Uwe Johnson: Einer wie keiner

Der Schauspieler Charly Hübner ist ein leidenschaftlicher Verehrer des Ost-West-Schriftstellers Uwe Johnson. Warum das so ist, erklärt er jetzt in einem erstaunlichen Buch.

Von Christian Eger 11.08.2024, 15:39
Schauspieler Charly Hübner: „Uwe Johnson ist eh der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.“
Schauspieler Charly Hübner: „Uwe Johnson ist eh der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.“ (Foto: Imago)

Halle/MZ. - Das sagt sich so hin. Aber er meint es ernst. Mitten in einem Streit darüber, was denn Literatur im digitalen Zeitalter überhaupt noch gesellschaftlich leisten könne, und welcher Autor da etwas zu melden hätte, platzt es aus ihm heraus: „Uwe Johnson ist eh der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“ – und zwar – „wie Homer, Tolstoi und Proust für ihre Zeiten und Länder.“

Wer spricht hier? Und über wen? Der, der sich hier aufschwingt zu Jahrhundert-Urteilen ist kein Intellektueller. Kein Autor. Kein Mann vom Fach also. Es ist der Schauspieler Charly Hübner, Jahrgang 1972, ein Publikumsliebling, Darsteller in tragikomischen Erfolgsfilmen wie „Bornholmer Straße“, in dem er einen Grenzoffizier spielte, der am 9. November 1989 den Schlagbaum öffnete. Hier nun eröffnet Hübner eine Debatte, die er gleich wieder schließt, indem er einen Autor nennt, der ihm als Goldstandard des gesellschaftlich relevanten Erzählens gilt.

Mutmaßungen über Johnson

Ein Außenseiter also, der ein Schauspieler aus literaturkritischer Perspektive ja ist, spricht über einen Außenseiter des literarischen Kanons. Denn so hoch geehrt der 1959 aus der DDR in den Westen übersiedelte Autor Uwe Johnson auch ist, so wenig ist er ein Mann der Massen. Seine Romane – das Epos „Jahrestage“ oder das Erfolgsdebüt „Mutmaßungen über Jakob“ – sind aufstörende zeitgeschichtliche Erörterungen der Ost-West-Lage, die er bis zu seinem Tod im Alter von 49 Jahren 1984 öffentlich reflektierte, zuletzt einsam von England aus.

Für Hübner ist der gebürtige Pommer der Autor seines Lebens. Warum das so ist, erzählt und bedenkt der Schauspieler in einem überraschenden kleinen Buch, das unter der Johnson-Zeile „Wenn du wüsstest, was ich weiß…“ neun „Versuche“ zu diesem Autor bietet. Es ist eine Art von „deep reading“, von tiefem Lesen, das Hübner treibt, indem er die sprachlichen und sachlichen Herausforderungen, die Johnson bietet, mit den eigenen Erfahrungen engführt.

Das geschieht nicht naiv, sondern erstaunlich reflektiert. Denn, schreibt Hübner: „Bewunderung ist etwas, dem ich eigentlich sehr zweifelnd gegenüberstehe. Ich empfinde sie sogar als eine Art Denkfaulheit. Hinter jedem Wunder steht doch in der Regel eine klare Konstruktion, die sich in ihrer Komplexität möglicherweise nicht leicht, aber doch mit Geduld und Neugier erfassen lässt.“ Das ist gut gesehen. Und hinter diese Konstruktionen zu kommen, versucht er bei Johnson, dessen Erzählwerk er als „fein, schlau, brutal, episch, kompliziert, souverän, arrogant und empfindsam“ ausweist. Er ist, was er selbst sagt, „ein Fan“.

Das hat Ursachen. Als der junge Freizeit-Punk Charly um 1990 aus der Wohnung seiner systemkonformen Eltern flog, mietete er sich in einem Waldhaus ein, wo er vor allem las. Denn lesen, das taten damals noch die „coolen“ Leute. Und Hübner las, was ihm ein westdeutscher Buchclub allmonatlich zustellte. Schließlich die „Jahrestage“. Das schlug ein. Johnson teilte mit dem in Neustrelitz geborenen Schauspieler die Landschaft. „Weltliteratur aus der Heimat also?“, notiert Hübner. „Das war neu. Das war unglaubwürdig.“

Hübner referiert Roman-Handlungsstränge, befragt die Machart der Prosa und – die von Zeitgenossen geschilderte Persönlichkeit des Schriftstellers, der in seinem Urteil politisch nicht korrumpierbar war. Johnson gleiche, lässt Hübner den Rostocker Germanisten Holger Helbig sagen, dem Kind aus Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Jenes, das ausspricht, was alle tatsächlich sehen: „Der Kaiser ist nackt!“.

Mit Johnson teilt Hübner, der den Mauerfall als ein Glück erfuhr, das Erleben gesellschaftlicher Umstürze – und das Überschreiben von Erfahrung und Wissen durch eine schwankende öffentliche und persönliche Erinnerung danach. Beiläufig schildert Hübner etwa seinen Eintritt in die DDR-Abiturstufe im Sommer 1989, die zeigt, wie in diesem Fall, kurz vor dem Ende, gegenüber den Schülern noch einmal ein politischer Druck aufgebaut wurde wie in den 1950er Jahren Uwe Johnsons. Aber Hübner geht es nicht ums Auftrumpfen, sondern darum, wie Erlebtes zu sichern und aufzuheben sei. „Dieser junge vaterlose Mensch“, schreibt Hübner über Johnson, „wollte Räume, Figuren und Panoramen schaffen, die die Komplexität von Leben sichtbar machen“, bevor deren Umstände von der Zeit „verschüttet“ werden.

Tugend der Genauigkeit

Was Hübner mit seinen Lektüre- und Erlebnis-Gedanken bietet, ist nicht allein eine Handreichung für Johnson-Leser. Es ist ein Buch, das Interesse weckt. Entweder, um noch einmal oder erstmals Johnson zu lesen. Hübner findet die richtigen Gewährsmänner dafür.

Zum Beispiel den unvergessenen West-Berliner Kabarettisten Wolfgang Neuss, der über Johnson sagte: „Seitdem Uwe tot ist, hab ich bei ihm gelesen, daß das Ehrliche und die Wahrheit nicht das Letzte ist. Es ist die Genauigkeit. Diese ist es, mit der man leben sollte.“ Was heißt: nicht weglassen, weichzeichnen, schwafeln. Stattdessen: historische Genauigkeit als Tugend. Das ist der Kern von Johnsons Schreiben. Oder wie es Neuss sagt: „Genau. Aufn Punkt. Echt also.“ Ein Kompliment, das sich auch Hübners Buch machen lässt.

Charly Hübner: „Wenn du wüsstest, was ich weiß ...“. Der Autor meines Lebens. Suhrkamp, 125 S., 20 Euro