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Kampf im Kreidemeer

Von Virginie Wolfram und Alexander Müller 27.12.2011, 19:05

Kap Arkona/MZ/dapd. - Völlig erschöpft stehen sieben Männer des Technischen Hilfswerks gestern gegen Mittag an der Königstreppe am Kap Arkona. Über ihren Schultern baumeln Schläuche, in den Händen tragen sie schweres Gerät. Ihre Schuhe sind unter dem weißen, verkrusteten Kreideschlamm kaum mehr zu sehen. Die Blicke sind leer, reden mag jetzt kaum einer mehr. Es ist das Ende eines 20 Stunden währenden Einsatzes.

Insgesamt 160 Helfer haben seit Montagnachmittag zwischen der tosenden Ostsee und der bröckelnden Kreideküste um das Leben der zehnjährigen Katharina N. gekämpft. Mit Suchhunden, Baggern, Amphibienfahrzeug und Wärmebildkamera vom Polizeihubschrauber aus. Am Ende hat es nichts genutzt. Das Mädchen, das am Montag beim Strandspaziergang mit Mutter und Schwester von herabstürzenden Kreidemassen verschüttet wurde, ist höchstwahrscheinlich tot. Schwester und Mutter waren verletzt ins Krankenhaus gebracht worden.

Es sei der erste Küstenabbruch an dieser Stelle, sagt Putgartens Bürgermeister Ernst Heinemann (Bündnis für Rügen). Vor zwei Jahren habe die Gemeinde den Wanderweg oberhalb des Küstenhangs sicherheitshalber um zehn Meter landeinwärts verlegt und am Strand Warnschilder aufgestellt. Man war gewarnt - vor drei Jahren war nur ein paar Hundert Meter entfernt ein Küstenabschnitt in die Ostsee gerutscht. Diesmal stürzten nach tagelangem Regen mehr als 2 000 Kubikmeter Kreideschollen und Mergel in die Tiefe.

Einsatzleiter Daniel Hartlieb, gezeichnet von der Nachtschicht, hebt hilflos die Schultern. "Wir haben alles gegeben, die ganze Nacht gesucht, mit allem, was wir hatten. Aber wir konnten sie nicht aufspüren", sagt der Kreisbrandmeister und streicht sich über die Augen. Er kämpft nicht nur mit der Müdigkeit. "Wir haben der Mutter versprochen alles zu tun."

An keinem der Helfer ist diese Nacht nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag spurlos vorübergegangen. Den Helm in der Hand schleppt sich auch Uwe Sachtleben gegen Mittag ein letztes Mal die 238 Stufen am Kap Arkona hinauf. Stundenlang hat der Zugführer des Technischen Hilfswerks Bergen mit seinen Kameraden in den meterhohen Massen aus Geröll und Kreideschlamm das verschüttete Mädchen gesucht.

Die lange Zeit des Grabens und Hoffens steht ihm ins Gesicht geschrieben. "Mich nimmt das Schicksal des Mädchens sehr mit. Ich habe selbst Kinder zu Hause", sagt der 51-Jährige. Bis zuletzt hat er gehofft, das Mädchen lebend zu retten. "Einen solch dramatischen Einsatz habe ich noch nie erlebt." Einige Meter weiter steht eine junge Helferin allein zwischen den Einsatzwagen. Ihr stehen Tränen in den Augen. "Ich kann es einfach nicht begreifen", sagt sie und schlägt die Hände vor ihr Gesicht.

Mitten in der Nacht war noch einmal Hoffnung aufgekeimt. Gegen vier Uhr morgens verkündete Einsatzleiter Hartlieb: "An einer Stelle haben die Spürhunde mehrfach angeschlagen." Vier Hunde suchten im taghellen Scheinwerferlicht die Kreidewüste unermüdlich nach einem Lebenszeichen des Mädchens ab. Während der Wind ihnen mit Geschwindigkeiten von bis zu 85 Stundenkilometer um die Ohren pfiff, gruben die Helfer mit Schaufeln und Baggern immer neue Löcher in den Schlamm. "Jeder hier befindet sich an der Grenze seiner Kräfte", sagt Hartlieb.

Und noch etwas kommt erschwerend hinzu: Die Helfer von THW, Feuerwehr, Polizei und Katastrophenschutz geraten selbst in Lebensgefahr. Dem Einsatzleiter bereiten zwei Risse in der steil aufragenden, 30 Meter hohen Kreidewand Sorgen. Gleich sechs Männer beobachten die Spalten. "Die Gefahr, dass noch mehr Kreide herabstürzt, ist groß", so Hartlieb. Gegen Mittag ist dann Schluss - die Rettungsaktion wird abgebrochen.

"Die Entscheidung fiel uns nicht leicht", sagt Lothar Großklaus (CDU), stellvertretender Landrat von Vorpommern-Rügen. Doch die Aktion mache nur noch wenig Sinn und sei zu gefährlich für die Retter. Bei dem einsetzenden Sturmregen drohten die Männer am Hangfuß verschüttet zu werden, sollte noch mehr Kreide abrutschen. Auch der Hubschrauber mit der Wärmebildkamera kann sich bei Windstärke 9 kaum noch in der Luft halten. Für die zehnjährige Katharina N. aus Brandenburg besteht keine Hoffnung mehr auf ein Überleben.