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Im Jahr 1984 Im Jahr 1984: Alliierte Spione in Halle-Lettin

Von Steffen Reichert 16.07.2008, 21:13

Halle/MZ. - Es ist der 22. März 1984, als die Mitarbeiter der halleschen Verkehrspolizei zu einem Unfall in die Nordstraße gerufen werden. Ein Lkw "Ural" hat gerade einen Mercedes S-Klasse unter sich begraben. Einer der Insassen, die allesamt Uniformen einer westlichen Armee tragen, ist sofort tot. Ein anderer steht schwerverletzt am Auto, weigert sich aber, ins Krankenhaus mitzukommen.

Die Polizisten erkennen sofort: Ein normaler Unfall kann das nicht gewesen sein. Kein Wunder. Bereits vor ihnen sind Mitarbeiter der Staatssicherheit am Unfallort eingetroffen. Wenig später erscheinen sowjetische Geheimdienstoffiziere und übernehmen.

Kaserne als Ziel

Die Kollision ist der Höhepunkt einer Geheimdienstoperation, an der "Juwel 853" - ein NVA-Fahrzeug - beteiligt ist. Denn der französische Mercedes, der am gleichen Morgen aus Potsdam die Kaserne Halle-Lettin angefahren hat, ist den Diensten als sogenannte MVM-Mission vertraut: die Spionagefahrt einer Jahrzehnte zuvor von den Alliierten vereinbarten Militärischen Verbindungsmission.

Es sind kleine militärische und oft von Geheimdienstlern durchsetzte Einheiten, die über Jahrzehnte durch Ost- und Westsektoren fahren dürfen. Als faktisch legale Vorhut der Amerikaner, Briten, Franzosen und Russen düsen seit 1947 als mobile Kontrollkommandos mit hochwertiger Technik vollgestopfte Spezialfahrzeuge durch die Lande. Alle Siegermächte versuchen in jener Zeit, Militärspionage zu betreiben. Und nicht nur das. Es wird eingebrochen, es werden Materialproben von Panzern genommen, Truppenbewegungen gemeldet, Sperrgebiete untersucht - die MVM als Einheiten der Alliierten signalisieren den Anspruch der Siegermächte auf die Kontrolle des geteilten Deutschland. Entsprechend heftig sind in Ost und West die Versuche der Geheimdienste, die gegnerischen Aktivitäten auf eigenem Boden zu verhindern.

Die Spionage hat ein gewaltiges Ausmaß. Von den 1982 insgesamt 410 in den Bezirk Magdeburg eingefahrenen MVM-Aufklärungsbesatzungen kann die Staatssicherheit ganze 26 unter Kontrolle bringen und lediglich 120 Stunden beobachten. "Lizensierte Spionage" hat der Wernigeröder Journalist Söhnke Streckel deshalb seine Publikation genannt, die jetzt bei Sachsen-Anhalts Landesbeauftragten für Stasiunterlagen erscheint und erstmals eines der dunkelsten Geheimnisse im Kalten Krieg zwischen Ost und West behandelt.

Streckel hat dabei nicht nur Unterlagen der Staatssicherheit ausgewertet, sondern greift auch auf Akten sowjetischer und amerikanischer Dienste zurück. Und er hat spektakuläre Fotos gefunden, die das Ausmaß der heftigen Auseinandersetzung deutlich machen. Dass diese auch Todesopfer fordert, wird in Kauf genommen.

Die Falle schnappt zu

Streckels These nach intensiver Forschung zu dem halleschen Fall: Da die westlichen MVM nur über die Glienicker Brücke einreisen dürfen, ist der Überblick über Aktivitäten in der DDR grundsätzlich gewährleistet. Da vermutet wird, dass die Franzosen zur Spionage nach Halle fahren, gehen die drei Blockade-Lkw "Juwel 851, 852, 853" und die Beobachter des MfS "Wolke 656, 657, 660" dreieinhalb Tage lang in Stellung. Egal, aus welcher Richtung sie kommen: Die Franzosen sitzen in der Falle. Als ein Wachposten der Kaserne die Spione entdeckt, schnappt die Falle zu. Der Franzose Philippe Mariotti versucht in Schlängelfahrt auszuweichen, erhöht das Tempo, der Fahrer von "Juwel 853" lenkt um: Es kommt zu dem tödlichen Zusammenprall.

Es dauert rund sechs Stunden, bis französische Abgesandte am Tatort eintreffen, die Offiziere, den Schrott und ihre Technik abholen - "sie haben vor Ort keine Fragen gestellt", weiß der Forscher Streckel. Alle kennen die Spielregeln. Erst im Nachgang wird die Politik aktiv. Während die Stasileute Geldprämien erhalten, gibt es offizielle Proteste. Die DDR und die Sowjets wiegeln mit der Begründung ab, es habe sich um eine Sperrgebietsverletzung gehandelt. Und sie verweisen auf den protokollierten Unfallhergang. Aber der ist inzwischen frisiert worden.

Ob in Tangerhütte oder in Wernigerode - auch in anderen militärisch relevanten oder grenznahen Bereichen wird in jenen Jahren durch die MVM spioniert. Für Streckel Grund genug, weiter zu recherchieren. "In diesem Bereich gibt es noch viele offene Fragen."

Infos und Bezug unter

www.landesbeauftragte.de