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Holocaust Holocaust: Der letzte Zeuge

Von ANKA RICHTER 05.11.2010, 22:51

Halle (Saale)/MZ. - Ein angebrannter Schweinekopf vor einer jüdischen Gedenkstätte, SS-Symbole auf jüdischen Friedhöfen, zerstörte Stolpersteine und Naziaufkleber überall in der Stadt. Ich kann nicht verstehen, warum nicht schärfer dagegen vorgegangen wird." Kurt Pappenheim, geboren 1927, weiß wovon er spricht. Er hat die wohl düstersten Jahre deutscher Geschichte durchlitten.

"Dass die Nazis Menschen einsperren und in Konzentrationslagern umbringen, das wusste ich schon als kleiner Junge." Pappenheims Vater wurde sofort nach der Machtübernahme Hitlers verhaftet und im Januar 1934 ermordet. Umgebracht als Jude, Sozialdemokrat und Antifaschist. Für die Mutter und ihre vier Kinder setzten die Ereignisse während der "Kristallnacht" deshalb nur fort, was sie an Grausamkeiten bereits erlebt hatten. "Aus Angst, dass uns was passieren könnte, hat unsere Mutter mich und meinen Bruder am Tag danach von der Schule abgeholt. Ängstlich und verstört sind wir durch das verwüstete Schmalkalden gelaufen", erinnert sich der damals Elfjährige.

Einen alltäglichen Kleinkrieg musste Kurt Pappenheim in der Schule ausfechten. Den Hitlergruß hatte die Mutter verboten und so gab es für fanatische Mitschüler oft genug Gelegenheit, ihn zu verprügeln. "Hitlergruß, Deutschlandlied und dann die Prügel. Das hat sich bei mir eingeprägt." Bis heute hört Kurt Pappenheim die Nationalhymne nicht gern.

Sein persönliches Unheil begann im Oktober 1944. Als "jüdischer Mischling" wurde er mit 17 Jahren abgeholt und zur Zwangsarbeit verschleppt in die Hölle der Lager. In Weißenfels, Halle, Großkayna und Wörlitz. Unter unerträglichen Bedingungen und der ständigen Angst, da nicht lebend rauszukommen. Während des Großangriffs auf Halle, Ostern 1945, musste Kurt Pappenheim am Bahnhof Leichen bergen aus den Splittergräben. Irgendwie hat er das alles überstanden und konnte die Auflösungserscheinungen gegen Kriegsende zur Flucht nutzen.

Dabei wurde er in Thüringen von amerikanischen Truppen gestoppt. Die glaubten ihm seine Geschichte nicht. Per Jeep ging es in die Nähe von Nürnberg zum Verhör. Und letztendlich fand er sich erneut in einem Lager wieder. Dieses Mal unter Nazis, die die Amerikaner interniert hatten. "Dort", so erinnert er sich, "habe ich die Welt nicht mehr verstanden. Ich kam aus der Hölle und die, die für alles verantwortlich waren, darunter hochrangige Nazis, genossen feinste Verpflegung und saßen da wie Gott in Frankreich bei Zerstreuung und angenehmem Lagerleben."

Man bot ihm wegen seiner jüdischen Herkunft schließlich an, in die amerikanische Armee einzutreten. Undenkbar für Kurt Pappenheim nach dieser verstörenden Erfahrung. Er hatte nur einen Wunsch: gesund nach Hause zu kommen. Das gelang über Umwege.

Im Dezember 1945 war er wieder in Schmalkalden. Und er hatte Glück. Mehr als jüdische Heimkehrer anderswo in der Sowjetischen Besatzungszone. Die von Stalin inszenierten antijüdischen Kampagnen und erneuten Repressalien blieben ihm erspart. Pappenheim wurde ohne Schwierigkeiten als Opfer des Faschismus anerkannt. Er konnte arbeiten, später studieren und wurde schließlich in der DDR Lehrer und Schuldirektor. Eine seiner wichtigsten Aufgaben sah Kurt Pappenheim nun darin, darüber aufzuklären, warum die Faschisten 1933 an die Macht gelangen konnten. Seine jüdischen Wurzeln wurden ihm dabei nicht zum Verhängnis. Die sozialdemokratischen seines Vaters indes schon. Pappenheim fühlte sich der historischen Wahrheit verpflichtet und wies, allein schon um Andenken und Verdienste des Vaters zu wahren, darauf hin, dass Widerstand gegen Hitler auch von Sozialdemokraten geleistet wurde. Das wollten stalinistische Dogmatiker innerhalb der SED viele Jahre lang nicht hören. Antifaschistischer Widerstand war - offiziell - ausschließlich kommunistischer. Kurt Pappenheim hielt dagegen, wehrte sich und wird bis heute nicht müde, darauf hinzuweisen, bei der Beurteilung historischer Ereignisse immer die Quellen einzubeziehen und sorgfältig alle Dokumente zu studieren. "Denn", so sagt er, "das lehrt mich meine persönliche Erfahrung in verschiedenen politischen Systemen: die Sieger schreiben Geschichte und manchmal muss man eben genauer hingucken . . ."

Er selber hat das immer getan. Besonders wenn es um das Schicksal der jüdischen Bürger Schmalkaldens ging. Bis heute bemüht er sich darum, das Andenken an die jüdischen Familien in seiner Heimatstadt zu bewahren und daran zu erinnern, welche Verbrechen an ihnen während der Nazizeit begangen wurden.

In ungezählten Vorträgen hat sich Kurt Pappenheim dafür eingesetzt, dass Antifaschismus mehr ist als phrasenhaftes Geschwafel. Meistens sprach er vor Schülern. "Die jungen Leute waren und sind immer an Zeitzeugen interessiert, neugierig und anteilnehmend dabei. Wenn man ihnen nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit Herz und Gefühl erzählt, dann erreicht man sie."

Erreicht hat er noch viele mehr. Weltweit kann inzwischen auch auf seine Geschichte zugegriffen werden. Er erzählte sie für die vom amerikanischen Regisseur und Oscarpreisträger Steven Spielberg 1994 gegründete Shoah-Stiftung. Auf Video festgehaltene Erlebnisse von Holocaustüberlebenden sollen nachfolgenden Generationen bereit stehen. Außerdem hat Kurt Pappenheim selber eine viel beachtete und emotional beeindruckende Lokalchronik verfasst. 1999 erschien "Die jüdische Gemeinde Schmalkaldens und ihr Ende im Holocaust". Darin dokumentiert er die erschütternden Leidenswege seiner ehemaligen jüdischen Mitbürger. Die, die den Holocaust überlebt haben, sind heute in Chile, den USA, Brasilien und Israel zu Hause. Für sein Buch hat er Kontakt zu ihnen aufgenommen, und sie haben ihn bereitwillig bei den Recherchen unterstützt. Haben private Dokumente, Briefe und Fotos geschickt. Einige besuchten sogar wieder Schmalkalden. Unter großen Vorbehalten und sehr ängstlich. Sie waren froh, in Kurt Pappenheim einen von ihnen gefunden zu haben. So sind Freundschaften entstanden, die bis heute halten.

Den Kontakt zu seinen jüdischen Verwandten, die seit 1938 im Ausland leben, den hält Kurt Pappenheim bereits seit DDR-Zeiten. Damals eine delikate Angelegenheit mit vielen Hindernissen. Als ihn beispielsweise sein in München studierender Cousin aus Rio de Janeiro 1988 besuchen wollte, bekam der von den Behörden keine Einreisegenehmigung. Erst über den Umweg Prag und die Einwilligung der DDR-Botschaft vor Ort, konnte er den Rückweg zu seinem Studienort über Schmalkalden antreten. Auch mit Verwandtschaft aus den USA traf sich Pappenheim. Mal in Berlin, mal bei sich zu Hause. Unerwünschter Kontakt war das nach damaliger Lesart. Er scherte sich nicht darum. Meldete den "Westbesuch" vorschriftsgemäß an, agierte aber ansonsten, wie er es für richtig hielt. Angst, ins Visier der Staatssicherheit zu geraten, hatte er nicht. "Ich war doch ohnehin ständig in deren Fadenkreuz. Ich habe mich nicht darum gekümmert." Bis heute übrigens nicht. Mehrmals haben ihn Mitarbeiter der Gauck-Behörde gefragt, ob er denn seine Akte nicht einsehen möchte. "Hässliche Dinge sind da über mich geschrieben worden." Er weiß sogar von wem. "Aber", so Kurt Pappenheim, "ich will die gar nicht lesen. Dann kann ich ruhiger schlafen."

Unruhig lassen ihn inzwischen ganz andere Dinge werden. Die allgegenwärtigen Neonazis. Deren Aufmärsche. Deren antisemitische Parolen. "Das alles erinnert mich schmerzhaft an schlimme Zeiten. Ich kann nicht verstehen, warum beispielsweise die NPD nicht verboten wird. Ich fühle mich nicht gut dabei." Resignieren will der 83-Jährige trotzdem nicht.

Auf die Frage, ob er denn manchmal Angst hat, dass sich Faschismus und Judenverfolgung wieder einen Weg bahnen könnten, entsteht eine lange Pause. "Nein", sagt Kurt Pappenheim dann. "Inzwischen gibt es viel mehr Menschen mit Zivilcourage!"