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Hilfsfonds für DDR-Heimkinder Hilfsfonds für DDR-Heimkinder: "Ich habe Kindheit und Jugend verdrängt"

Von Ralf Böhme 18.09.2014, 06:32
Karl-Heinz Stiemer übt Weihnachtslieder auf seinem Keyboard, das ihm der Hilfsfonds bezahlte.
Karl-Heinz Stiemer übt Weihnachtslieder auf seinem Keyboard, das ihm der Hilfsfonds bezahlte. Andreas Stedtler Lizenz

Bitterfeld-Wolfen - Eine Schwester? „Ja, die Nachricht ist wie ein Blitz eingeschlagen, ich habe eine Schwester“, sagt Karl-Heinz Stiemer aus Wolfen (Landkreis Anhalt-Bitterfeld). Sie wohnt in Niedersachsen und ist 45 Jahre. Sobald es seine Gesundheit erlaube, wolle er seine Schwester besuchen. Bislang kenne man sich nur vom Telefon.

heimkinderfonds
@ms.sachsen-anhalt.de

Dass er eine Schwester hat, erfuhr der 56-Jährige vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, den er vor einiger Zeit eingeschaltet hatte. Auslöser war sein laufendes Antragsverfahren auf Entschädigung aus dem bis 2017 aufgelegten Hilfsfonds für ehemalige DDR-Heimkinder. Er wollte wissen, ob er - wie in seiner Kindheit und Jugend behauptet - tatsächlich keine Angehörigen mehr hat.

Der Wolfener ist einer von geschätzt 600 000 Menschen, die zu DDR-Zeiten in einem Kinderheim lebten. Und er ist eines von jenen Heimkindern, die damals körperliche und seelische Gewalt erlitten und für die nun der Fonds gedacht ist. Bund und Länder wollen Menschen mit solchen schweren Schicksalen helfen, heute besser zurecht zu kommen (siehe auch „Hilfe bis zu 10000 Euro“). Die Antragsfrist endet am 30. September. Betroffene, die sich bis dahin nicht registrieren lassen, gehen leer aus.

Qualvoller Rückblick auf die DDR-Zeit

Die Nachricht von der unbekannten Schwester, die ihn erst vor wenigen Tagen erreichte, löste bei Stiemer ungläubiges Staunen, aber vor allem große Freude aus. „Das nennt man wohl ein Wunder“, sagt der Frührentner zu Tränen gerührt. „Ich habe meine Kindheit und Jugend so gut es ging verdrängt“, sagt Stiemer heute. „Ich wollte vergessen, um möglichst normal zu sein.“ Dann aber wurde 2012 der DDR-Heimkinderfonds ins Leben gerufen. Seither beschäftigte sich Stiemer mit dem erlebten Leid, suchte nach Unterlagen. Ein Anwalt half ihm dabei.

Der Rückblick auf die DDR-Zeit war qualvoll und mühsam, wegen mancher Fehlschläge oft auch deprimierend. Fast zwei Jahre vergingen ohne greifbaren Erfolg. Denn in Archiven fanden sich nur wenige Papiere zu seiner Vergangenheit. Auch die Stasi-Unterlagenbehörde habe ihm erst einmal einen abschlägigen Zwischenbescheid erteilt, sagt er. Und es vergingen Monate, ehe Stiemer überhaupt einen ersten Gesprächstermin bei der Beratungsstelle bekam, die das Sozialministerium in Magdeburg eingerichtet hat.

Der Fonds des Bundes und der Länder, der die Unterstützung finanziert, wurde 2012 eingerichtet und soll voraussichtlich bis 2017 bestehen. Das Gesamtvolumen beträgt 200 Millionen Euro. Seine Angebote richten sich an Personen, die auf staatliche Anordnung in einem DDR-Kinderheim untergebracht waren. Insbesondere greifen sie dann, wenn die Menschen in dieser Zeit in den DDR-Einrichtungen arbeiten mussten und/oder bei ihnen ein körperlicher oder psychischer Folgeschaden vorliegen. Vor allem soll früheren Insassen von 38 sogenannten Spezialkinderheimen und der 39 Jugendwerkhöfe geholfen werden.

Wird ein Bedarf an Hilfeleistungen aus dem Fonds ermittelt, folgt eine Vereinbarung. Dann kann es verschiedene Leistungen bis zu 10 000 Euro geben. Das Geld wird nicht bar ausgezahlt. Der Fonds überweist direkt an Lieferanten und Dienstleister. Finanziert werden Kuren, Therapien, Zahnersatz und alltägliche Güter. Darüber hinaus sind Ausgleichszahlungen möglich, wenn ehemaligen DDR-Heimkindern Rentenansprüche entgangen sind. Eine Anrechnung auf andere Sozialleistungen erfolgt nicht. Die Antragsfrist endet am 30. September 2014.

Schließlich füllten die Belege aus seiner Zeit in DDR-Kinderheimen aber doch eine ganze Mappe. Nach etlichen weiteren Nachfragen wurde Stiemers Anspruch auf eine Entschädigung schließlich bestätigt. Zeigten die Dokumente doch, wie ein Kind unverschuldet auf der Schattenseite des Lebens landete.

Wie Karl-Heinz Stiemer schon als Zweijähriger in ein Kinderheim kam und ihm erklärt wurde, seine Eltern seien tot, lesen Sie auf der nächsten Seite.

7.000 Euro wurden Stiemer bislang zugesprochen, freilich nicht in Bargeld. Jede Überweisung, sagt er, müsse einzeln beantragt werden. So wird Stiemer, wenn er seine Schwester besucht, für die Fahrkarte in Vorkasse gehen. Wegen seiner schmalen Rente, die nur knapp über dem Hartz-IV-Satz liegt, ist das nicht einfach für ihn.

Was Stiemer möglicherweise auch die Herzprobleme einbrachte, unter denen er heute leidet, geschah vor mehr als fünf Jahrzehnten. Schauplatz war zunächst Wanzleben bei Magdeburg, später Oschersleben. Dort gaben DDR-Behörden aus Aschersleben 1959 den damals noch nicht Zweijährigen in die Obhut eines kirchlichen Kinderheims. Seine Eltern seien tot, wurde ihm später vom Personal erzählt. „Das war eine schlimme Lüge“, so Stiemer. Heute wisse er, dass seinen Eltern der Umgang mit ihm untersagt wurde - aus politischen Gründen. Mutter und Vater kann er nicht mehr befragen. Wie der Wolfener erst kürzlich erfuhr, starben sie vor einigen Jahren.

Ein besonderes Trauerspiel: das Verhalten einiger Betreuer im Kinderheim. „Dort lernte ich, Schläge einzustecken“, so Stiemer. Manchmal habe es Tage gegeben, an denen alles schief gelaufen sei. Mal erschien dem Personal der Tisch falsch gedeckt, mal war das Zimmer nicht sauber genug, mal fehlten die Hausaufgaben. Die Folge in vielen Fällen: Prügel mit Rohrstock, mit Kleiderbügel oder mit einem Gurt. Und dann wartete laut Stiemer oft noch die Besenkammer auf ihn, in der er eingesperrt wurde.

Verhöre, Spritzen und Tabletten

Nicht besser erging es ihm in einem Spezialheim, in das Stasi-Leute ihn als Schüler für mehrere Monate brachten. Stiemer hatte Mitschülern von irgendwelchen aufgeschnappten Sprüchen erzählt. Für die Stasi waren es staatsfeindliche Parolen. „So etwas sollte mir mit aller Gewalt ausgetrieben werden.“ Wochenlangen Verhören im Wechsel mit Spritzen und Tabletten folgten Arbeitseinsätze - das Ergebnis: „Ich verstand die Welt nicht mehr und war wütend auf alles.“ Danach kam es zu einer zweiten Einschulung, in einer Hilfsschule. Bis zur 7. Klasse hielt er durch.

Obwohl Stiemer eigentlich Tierpfleger oder Musiker werden wollte, musste er in Eisleben eine Ausbildung zum Transport- und Lagerfacharbeiter aufnehmen. Nach der Wende wurde er arbeitslos. Seine Ehe zerbrach. Er wurde krank, erwerbsunfähig. Inzwischen hilft ihm ein Sozialbetreuer, wenn er in der Klemme sitzt. Ein Haustier gegen die Einsamkeit, die ihn manchmal überfällt, würde ihm gefallen. Doch die Wohnung im Plattenbau ist zu klein: 26 Quadratmeter.

Ein lange gehegter Wunsch aber ist erfüllt. Stiemer besitzt jetzt ein Keyboard. Das sei sein musikalischer Rettungsanker - bezahlt vom Hilfsfonds. (mz)