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Hausärztin in Sachsen-Anhalt Hausärztin in Sachsen-Anhalt: Mit 80 Jahren täglich 70 Patienten

Von Steffen Reichert 24.03.2008, 18:16

Jessen/MZ. - An Operations-Tagen gibt es Selbstgekochtes. Das hat sich so eingebürgert in der Praxis, und deshalb schickt Brunhilde Ziegenhahn auch heute jemanden über die Straße zum Fleischer Müller. Zwei Kilo Hackepeter und ein paar Schnitzel - an Tagen wie diesem kann es abends länger dauern.

Deshalb wird vorgesorgt. Ärzte, Schwestern und Familienmitglieder rücken am Esstisch enger zusammen. "Das ist schon eine eingeschworene Gemeinschaft", sagt Schwester Christel, die zusammen mit Schwester Michaela seit vielen Jahren bei der Ärztin arbeitet. Dann wendet sich wieder dem Patienten zu: "Nein, die Chipkarte brauchen wir heute noch nicht."

Noch ist es ruhig an diesem Morgen in der Jessener Praxis von Brunhilde Ziegenhahn - mit "nur" 60 bis 70 Patienten rechnet die Schwester an diesem Tag. Aber das kann sich ändern. Man braucht schon Routine. Als erstes müssen am Morgen vor allem Blutproben genommen werden. Um viertel nach neun kommt der Blutkurier, und dann geht es richtig los.

Inzwischen ist auch "Frau Doktor" eingetroffen. Brunhilde Ziegenhahn lehnt die Gehhilfen an ihren Schreibtisch und macht es sich bequem. "Besser die Hüften sind kaputt als der Kopf", sagt sie lachend, bindet sich den Mundschutz um und greift nach der ersten Patientenkarteikarte. Wenn man nicht wüsste, dass Brunhilde Ziegenhahn im September 80 Jahre alt geworden ist - man würde es nicht merken. Warum sie noch arbeitet? So richtig versteht sie die Frage nicht. "Es ist ein Reflex", antwortet sie und gibt zu, dass eigentlich noch mehr dahinter steckt. "Inzwischen kommen die Kinder der Kinder." Man kennt sich seit Jahren.

Brunhilde Ziegenhahn ist Ärztin aus Leidenschaft. Vielleicht hat das mit ihrer Lebensgeschichte zu tun. Sie studiert von 1946 bis 1950 in Leipzig Jura, weil sie später das Handelsunternehmen der Eltern übernehmen soll. Das wird jedoch verstaatlicht. "Also fing ich noch einmal bei Null an."

Nun macht sie das, was ihr wirklich liegt und woran es mangelt in der noch jungen DDR: Brunhilde Ziegenhahn wird Ärztin. In Königs-Wusterhausen arbeitet sie beim Autobahn-Rettungsdienst als Chirurgin. Ab 1968 ist sie im Wittenberger Paul-Gerhardt-Stift beschäftigt. Abends nach dem Dienst im Krankenhaus hält sie Sprechstunden ab und promoviert. 1968 wechselt sie schließlich als Kreiskinderärztin nach Jessen: "Hausbesuche, Sprechstunden, Behandlungen - da hatte ich alle Hände voll zu tun."

Mit der Wende und dem Ende der Polikliniken in der DDR macht sich Ziegenhahn selbständig. Da ist sie schon über 60, aber sie schafft diesen Sprung. Sie auf ihrem Grundstück ein kleines Häuschen - ein kleines medizinisches Zentrum entsteht. Unten die Praxis, oben die Physiotherapie. Links der Schwiegersohn als Augenoptiker, über den Hof die Tochter als Augenärztin. Kredite müssen aufgenommen, Mitarbeiter eingestellt, eine Firma gegründet werden.

Tag um Tag - selbst am Wochenende - arbeitet die Ärztin, der die Patienten vertrauen. "Vielleicht ist es der Erfahrungsschatz, der mir hilft", sagt sie. Zugleich wird ihr klar, dass man in einem Ort wie Jessen als Ärztin nicht allein davon leben kann, Kinder zu behandeln. Also erwirbt sie, inzwischen 70 Jahre alt, den Abschluss als Allgemeinmedizinerin. Der Job macht Spaß. "Der Beruf ist Erfüllung", sagt Brunhilde Ziegenhahn. Vom Bereitschaftdienst ist sie ausgenommen, zu anstrengend wäre das Treppensteigen für die alte Dame.

Was freilich aus der Praxis eines Tages wird, das weiß sie nicht. "Nachwuchs gibt es nicht", das ist ihr klar. Zwar ist sie berechtigt auszubilden. Aber Interessenten fehlen: Die Investitionen, die lange Ausbildung und die nötigen Erfahrungen schrecken ab. "Viele scheuen die Verantwortung einer sofortigen Diagnose", so Ziegenhahn.

Sie selber stört vor allem die Abrechnung. Denn wenn es etwas gibt, was der Jessenerin zu schaffen macht, dann ist es das Gewirr aus Vorschriften, Bilanzen und kodierten Befunden. Schlecht und ungerecht bezahlt, sagt sie, werde ohnehin. Früher sei jede Behandlung bezahlt worden, heute gebe es eine Pauschale. Doch viele Patienten, oft auch ältere, kommen mehrmals im Quartal. "Die behandele ich schlicht umsonst."

Also ist es doch Zeit, um in den Ruhestand zu gehen? Brunhilde Ziegenhahn kann sich das nicht vorstellen. Stattdessen erzählt sie lieber die Geschichte von ihrem Freund aus Bad Liebenwerda. Der ist 91 Jahre alt und führt eine Apotheke mit 17 Angestellten. "Und stellt Rheuma-Salben her, die ich sonst nirgendwo beziehen kann."