Hartz IV vor Sozialgerichten Hartz IV vor Sozialgerichten: Erstmals weniger Klagen

Halle (Saale) - Die Akten stapeln sich bis unter die Decke der Sozialgerichte in Halle, Dessau-Roßlau und Magdeburg. Auch wenn die Statistik eine leichte Entspannung erkennen lässt, die Prozess-Flut gegen Hartz-IV-Bescheide beschert den Mitarbeitern noch Arbeit für viele Jahre. Wie es dazu gekommen ist, erklären Sozialrichter auch mit dem Agieren von Mitgliedern einer Berufsgruppe - Rechtsanwälte, die Menschen mit Hartz-IV-Problemen teils am Jobcenter, teils im Internet offensiv ihre Hilfe versprechen.
Angesichts des Arbeitspensums, unter dem die überlasteten Sozialgerichte stöhnen, funktioniert das offenbar bestens. Viele Betroffene gehen wohl nur allzu gern auf die anwaltlichen Offerten ein - in der Hoffnung auf einen finanziellen Vorteil und auch nur deshalb, weil sie mit der Vielzahl von Rechtsfragen schlicht überfordert sind.
Ohne finanzielles Risiko
Dem Geschäftsmodell, wissen die Sozialrichter, liegt eine einfache gesetzliche Regel zugrunde: Für Hartz-IV-Empfänger, die vor dem Sozialgericht klagen, ist die anwaltliche Vertretung immer kostenlos. Betroffene gehen keinerlei finanzielles Risiko ein, die Anwälte auch nicht. Denn ihre Rechnung zahlt jemand, der immer zur Kasse gebeten werden kann - der Steuerzahler. Und das geschieht, so will es der Gesetzgeber, unabhängig vom Ausgang des Verfahrens.
Entweder gewährt das Sozialgericht pflichtgemäß auf Antrag eine Prozesskostenbeihilfe oder das Jobcenter überweist, falls es den Prozess verliert. Das passiert ziemlich häufig, in mehr als 50 Prozent der Fälle. Mangelhaft sind, so die Erfahrungen am halleschen Sozialgericht, vor allem Hartz-IV-Bescheide aus den ersten Jahren des Sozialgesetzes.
Was sich für eine Kanzlei besonders lohnen kann, liegt auf der Hand: Wenn ein Hartz-IV-Empfänger dem Anwalt gleich ein umfassendes Mandat für alle folgenden Eventualitäten erteilt. Dann spielt der Klient mit jedem neuen Bescheid, mit jedem neuen Streit darüber frisches Geld ein. Ein Widerspruch, sagen Kenner der Materie, ist standardisiert dann schnell eingelegt. Und ein Grund für eine Klage findet sich auch meistens.
Ein Richter am Landessozialgericht sagt: „Wer auf dieser Klaviatur zu spielen vermag, kommt mit den anfallenden Anwaltsgebühren sicher ganz gut über die Runden.“ Insider sprechen von juristischer Fließbandarbeit. Dabei soll es pro Fall vielfach um 200 bis 450 Euro gehen, die der betreffende Anwalt beanspruchen kann. Übrigens, die Höhe des Streitwertes spielt keine Rolle. Der Anwalt schreibt seine Rechnung auch, wenn es nur um wenige Cent geht, um die am Sozialgericht gestritten werden kann.
Nach den Erfahrungen eines Sozialrichters aus Halle haben sich in Sachsen-Anhalt in den zurückliegenden zehn Jahren zwischen 50 und 150?Anwälte auf Hartz-IV-Fälle gestürzt. Vor allem in den Jahren 2010 und 2011 sei ihm zufolge eine regelrechte Gebührenjagd im Gange gewesen. Gegenwärtig sind die Gerichte mit einer Vielzahl von Klagen gegen Bescheide aus dieser Zeit intensiv beschäftigt.
Carsten Schäfer, Sprecher des Landessozialgerichts in Halle, geht allerdings davon aus: „Eine goldene Nase wird man sich mit diesen Rechtsstreitigkeiten eher nicht verdienen.“ Werde Prozesskostenbeihilfe beantragt, prüften die Gerichte auch, ob überhaupt hinreichende Aussichten auf Erfolg der Klage vorliegen. Sei dies nicht der Fall, würde die Beihilfe abgelehnt. Außerdem habe das Bundessozialgericht laut Schäfer inzwischen Klagen einen Riegel vorgeschoben, mit denen Rechtsanwälte zuvor massenhaft wegen kleiner Bagatellbeträge im Cent-Bereich tätig waren. Auch viele Untätigkeitsklagen gegen Jobcenter, die Widersprüche innerhalb von drei Monaten entscheiden müssen, lohnten sich laut Sprecher Schäfer wegen nur noch sehr geringer Anwaltsgebühren heute kaum noch.
Anwaltsverein widerspricht
Den Vorwurf der Gebührenjagd durch Anwälte weist Oliver Lentze aus Magdeburg, Vorstand des Deutschen Anwaltsvereins in Sachsen-Anhalt, vehement zurück. Ausnahmen gebe es zwar immer, von einer Massenerscheinung könne in Sachsen-Anhalt aber keineswegs die Rede sein. Vielmehr glaubt er, dass alle Beteiligten sich inzwischen auf die äußerst komplizierte Hartz-IV-Gesetzgebung eingestellt haben. Allerdings werde es auch künftig eine Aufgabe der Anwälte bleiben, Mängel in den Bescheiden von Jobcentern aufzuspüren und auf deren Heilung zu dringen. „Darauf haben Hartz-IV-Empfänger einen gesetzlichen Anspruch.“ Ihr Recht zu erlangen, koste nicht die Welt, sei aber auch nicht zum Nulltarif zu haben. (mz)