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Geschichte Geschichte: Geheimsache Strahlentod

Von Alexander Schierholz 08.09.2008, 16:38

Halle/MZ. - "Pechblende" - das ist ein anderer Name für das stark radioaktive Mineral Uranpecherz. "Pechblende" steht aber auch als Titel über 70 mit altertümlicher Technik vervielfältigten A-4-Seiten, eng beschrieben mit Schreibmaschine. Die Studie über den Uranbergbau - 1 000 Exemplare werden im Sommer 1988 in Umwelt- und Kirchenkreisen verteilt und unter der Hand weitergereicht - hat es in sich: Die breite DDR-Öffentlichkeit erfährt von Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung, vom Raubbau an der Natur.

Ein - aus Sicht der Staatsmacht - ungeheuerlicher Vorgang, unterliegt doch die Arbeit der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut höchster Geheimhaltung in der DDR. Die meisten wissen nur, dass die Wismut Uran für die Sowjetunion abbaut, mehr nicht. "Die Folgen ließen sich bestenfalls ahnen", sagt "Pechblende"-Autor Michael Beleites, heute Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Sachsen. "Genau gewusst hat kaum jemand etwas." Zumindest außerhalb der Abbaugebiete.

Radioaktiver Staub

Beleites schreibt über radioaktiven Staub von Halden und aus Schlammabsetzbecken, der benachbarte Dörfer einhüllt. Über kontaminierte Flüsse. Über überdurchschnittlich sich häufende Fälle von Leukämie, Hoden- oder Lungenkrebs. Schnell wird die Studie in der Bundesrepublik bekannt, westliche Medien berichten ausführlich über den "real existierenden Strahlentod" (Süddeutsche Zeitung). Da ist dem damals 23-Jährigen klar, dass die gefahrvollste Zeit hinter ihm liegt: "Wenn man mich jetzt festnimmt, weiß jeder warum." Öffentlichkeit als Schutz.

Die Stasi hat Michael Beleites im Visier, seit er 17 ist. Der gebürtige Hallenser wächst in Trebnitz nahe Zeitz auf, der Vater ist Pfarrer. Er hat Kontakt zu kirchlichen Umweltgruppen, später auch zur westdeutschen Friedensbewegung - der Stasi ist das ein Dorn im Auge. Seit 1987 darf Beleites die DDR deswegen nirgendwohin mehr verlassen.

Uran wird spätestens mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 ein Thema für ihn. Der gelernte Tierpräparator wohnt jetzt in Gera, wo er im Naturkundemuseum arbeitet. Östlich der Stadt ragen die Abraumhalden in den Himmel. Nach einem Seminar mit Freunden entsteht Anfang 1987 die Idee für die "Pechblende". "Alle haben gesagt, lass die Finger davon", erinnert sich Beleites, "nur Sebastian Pflugbeil hat mich unterstützt." Den Berliner Arbeitskreis "Ärzte für den Frieden" um den späteren Bürgerrechtler Pflugbeil und das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg als Zentrale der kirchlichen Umweltbewegung gewinnt Beleites als Herausgeber.

Die Umstände, unter denen die "Pechblende" entsteht, nennt ihr Autor heute "abenteuerlich". Selbst kein Experte, lässt er eine westdeutsche Freundin westliche Fachliteratur abfotografieren, die Filme in Filmschachteln kleben und bei einem DDR-Besuch mitbringen. Daten über verseuchte Gewässer besorgt er sich bei der Wasserwirtschaft - die Türen öffnet seine Mitgliedschaft in einer Natur- und Umweltgruppe des staatlich anerkannten Kulturbundes. Er befragt Anwohner von Schächten und Absetzanlagen, klettert über Zäune auf Betriebsgelände, schießt Fotos. Hat er Angst gehabt? Durchaus, sagt Beleites, "aber keine lähmende Angst. Sie hätten mich einsperren können, aber sonst hatte ich nichts mehr zu verlieren". Als er für die "Pechblende" recherchiert, ist er schon arbeitslos - das Naturkundemuseum hat ihn auf Druck der Stasi 'rausgeworfen und ihm den Weg zum Studium verbaut.

Versteck unterm Dach

Beleites hat aber auch Glück: Von seiner Beschäftigung mit dem Uranbergbau wissen viele, auch die Stasi, von der Arbeit an der Studie nur eine Handvoll Vertrauter. Ein Spitzel ist nicht darunter. Gar nur zwei Leute haben Kenntnis von dem Versteck unter dem Dach der Trebnitzer Kirche. Dort bringt Beleites Fotografien des Manuskripts unter, wenn er wieder ein Kapitel beendet hat. Ende 1987 ist die "Pechblende" fertig, doch es soll noch bis Juni 1988 dauern, bis sie erscheinen kann - der Druck erweist sich als schwieriger als gedacht. "Die Wachsmatrizen, die es in der DDR gab, waren nicht geeignet für große Auflagen", erinnert sich Beleites. Matrizen aus dem Westen müssen her.

Als die Arbeit endlich veröffentlicht ist, schäumt die Stasi vor Wut, muss aber zuschauen. "Der Verdächtige verstand es ... unter der strafrechtlichen Relevanz zu bleiben", muss das MfS im Juli 1988 in einem Bericht feststellen. "Staatsfeindliche Hetze", die strafbar wäre, lässt sich Beleites nicht nachweisen. Zwar könnte die Studie eingezogen werden, weil sie ohne Genehmigung gedruckt wurde - doch große Teile der Auflage sind mittlerweile verteilt.

Der Staatsmacht bleibt nur, den Autor zu "Disziplinierungsgesprächen" vorzuladen und Gegengutachten zu organisieren, in denen die "Pechblende" als unseriös hingestellt wird. Michael Beleites aber hat sein Ziel erreicht - eine kritische Öffentlichkeit. "Die Studie hat das Tor aufgestoßen", sagt er heute, "sich offen mit den Gefahren des Uranbergbaus zu beschäftigen." Ein Tabu ist gebrochen.