Gemeinschaftsschule Wolmirstedt Gemeinschaftsschule Wolmirstedt: Büffeln auf dem Schulflur

Wolmirstedt/MZ - Das erste, was Besuchern der Johannes-Gutenberg-Schule in Wolmirstedt auffällt: Hier arbeiten die Schüler auf dem Flur. Konzentriert sitzen Mädchen und Jungen in kleinen Gruppen an Tischen und lösen Aufgaben. Laura und Anabell aus der 8a haben eine große grüne Pappe vor sich, aus der sie ein Plakat machen wollen. In dem fächerübergreifenden Projekt geht es um begrenzte Ressourcen. „Auf dem Flur ist es oft ruhiger als in der Klasse, das hilft beim Arbeiten“, sagt Laura.
Was die Schüler im Bördekreis praktizieren, heißt bei Pädagogen SPL - „selbstorganisiertes praxisorientiertes Lernen“. Das selbstständige Erarbeiten eigener Themen ist eine der Säulen der neuen Gemeinschaftsschulen, die es seit Schuljahresbeginn in Sachsen-Anhalt gibt. Bisher sind es 13 von 250 Sekundarschulen, die ihr Konzept so umgestellt haben. Die Gutenberg-Schule ist eine davon. In dem neuen Schultyp sollen Kinder auch länger gemeinsam lernen. Erst nach der 8. Klasse soll über den weiteren Bildungsweg - Realschulabschluss oder Abitur - entschieden werden.
Die Gemeinschaftsschule gilt als Prestigeprojekt der SPD in der Großen Koalition, doch was hatte es darum nicht für Streit gegeben: Die Befürworter sehen mehr Bildungschancen für alle Kinder, weil zu frühe Festlegungen auf den späteren Abschluss vermieden würden. Kritiker befürchten dagegen, dass beim längeren gemeinsamen Lernen einige Schüler auf der Strecke bleiben. Und dass beim selbstständigen Arbeiten den Kindern die Führung fehle.
Start in den 5. Klassen
Nun sind sie also am Start, die Gemeinschaftsschulen. Erfahrungen mit der neuen Schulform aber gibt es noch nicht - kann es noch nicht geben. An den beteiligten Schulen werde das Konzept zunächst in den Eingangsklassen - also den 5. Klassen umgesetzt, sagt Martin Hanusch, Sprecher im Kultusministerium. Die jetzigen höheren Jahrgangsstufen seien weiterhin normale Sekundarschulklassen. „Die Gemeinschaftsschule wächst langsam auf.“
Wer wissen will, wie es läuft mit dem längeren gemeinsamen Lernen und dem selbstständigen Arbeiten, kann Helmut Thiel in Wolmirstedt fragen. Thiel, 60, ist Rektor der Gutenberg-Schule, ein bedächtiger untersetzter Mann mit Schnauzer. Wer ihn auf die Bedenken gegen die Gemeinschaftsschule anspricht, erntet ein Lächeln und diesen Satz: „Es ist Unsinn, dass eine andere Organisationsform nicht die gleiche Leistung bringt.“ Thiel hat die Schule, die er seit 1990 leitet, gründlich umgekrempelt. Und viele Elemente, die in der Gemeinschaftsschule eine Rolle spielen, schon seit geraumer Zeit in seiner Einrichtung ausprobiert. Für diesen neuen Weg hat sich der Rektor vorab eine Genehmigung des Kultusministeriums eingeholt.
So lernen Schüler mit unterschiedlichen Leistungsniveaus in Wolmirstedt eigenständig in Teams zusammen. Die übliche 45 Minuten lange Unterrichtsstunde gibt es nicht mehr, stattdessen Blöcke von bis zu zwei Zeitstunden, bei SPL sogar vier Zeitstunden. „Wenn man sich in ein Thema eingearbeitet hat, sollte man nicht so schnell wieder herausgerissen werden“, sagt Thiel.
Vor zwei Jahren hat die Johannes-Gutenberg-Schule für dieses Konzept den deutschen Schulpreis bekommen. „Das ist Rückenwind für uns“, freut sich der Rektor. Er hat anfangs viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Bei den eigenen Kollegen. Und bei den Eltern. „Eltern beurteilen Schule immer nach dem, wie sie selber Schule erlebt haben. Das ist ganz normal.“ Daher haben sie langsam angefangen in Wolmirstedt. Haben Klasse für Klasse umgestellt. Haben den Eltern das Arbeiten im Team in der Aula vorgeführt. „Es gab Befürworter und Gegner“, sagt Thiel, „aber wir haben gemerkt, dass es funktioniert.“
Wirklich? Kritiker bemängeln, an einer Gemeinschaftsschule werde Schülern, die das Abitur anstrebten, die notwendige gymnasiale Vorbildung der niedrigeren Jahrgänge fehlen. So hatte es unlängst Jürgen Mannke, Vorsitzender des Philologenverbandes, geäußert.
„Wir sortieren die Kinder nicht"
Natürlich müsse man die unterschiedlichen Leistungsniveaus der Schüler berücksichtigen, sagt Thiel dazu. Deshalb verteilen sie in Wolmirstedt in einer Klasse oder einem Team Aufgaben mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden. Anfangs der 5. Klasse haben sie zuvor geprüft, welchen Lern- und Wissensstand die Kinder haben. „Wir sortieren die Kinder nicht, das ist der Unterschied“, betont Thiel. Beim gemeinsamen Lernen könnten sich die Jungen und Mädchen gegenseitig helfen. „Wer anderen etwas erklärt, lernt dabei selbst am besten“, davon ist der Schulleiter überzeugt.
Dennoch erhalten Eltern und Kinder in Wolmirstedt schon nach der 5. Klasse eine Einschätzung der Schule über den weiteren Bildungsweg. „Das ist wichtig“, sagt Thiel, „Schüler brauchen Ziele.“ Gerne erzählt er dazu die Geschichte vom Handy. „Das kann jeder Schüler schon in der Grundschule bedienen. Die lesen aber nicht die Anleitung. Die probieren einfach aus. Und wenn sie nicht weiterwissen, fragen sie jemanden. Sie wollen das Handy bedienen können. Das ist ihr Ziel.“ So funktioniere auch Lernen. Thiel räumt ein: „Für uns Lehrer war es schwer sich umzustellen.“ Viele Kollegen hätten sich gefragt, was passiere, wenn sie nicht mehr alle Fäden in der Hand hielten.
Weg vom Frontalunterricht, hin zur selbst organisierten Teamarbeit, das heißt nämlich auch: den Schülern Verantwortung übertragen. In der 8. Klasse sieht das zum Beispiel so aus: In dem fächerübergreifenden Ressourcen-Projekt machen die Kinder selbst Vorschläge, wie sie sich mit dem vorgegebenen Thema auseinandersetzen wollen. Der Fachlehrer muss die Ideen bestätigen und darauf achten, dass damit der Lehrplan eingehalten wird.
Gelbe und grüne Karten
Um die Kontrolle zu behalten, haben sich die Lehrer in Wolmirstedt die Sache mit den Karten einfallen lassen. Schüler mit gelben Papierkärtchen dürfen sich zum Lernen auf dem Flur aufhalten. Wer eine grüne Karte hat, darf auch noch an anderen Orten im Gebäude arbeiten - ohne dass Lehrer Aufsicht führen. „Das geht nur mit viel Vertrauen“, sagt Thiel. Ob jemand selbstständig genug ist für die Karten, entscheiden die Klassenlehrer nach Rücksprache mit den Schülern. Klappt es nicht, können sie die Karten wieder entziehen.
Erfolge des Wolmirstedter Konzepts? Rektor Thiel ist stolz: „Wir haben keine Schulabbrecher.“ In zwei Jahren hätten nur noch zwei Kinder die Schule schon mit dem Hauptschulabschluss verlassen - ein Ergebnis unter dem Landesdurchschnitt. Und mehr als die Hälfte der 360 Gutenberg-Schüler sei auf dem Weg zum Abitur. Dafür müssen sie nach der 10. Klasse auf ein Gymnasium oder Fachgymnasium wechseln. Vorerst. Erklärtes Ziel von Thiel ist der Aufbau einer eigenen gymnasialen Oberstufe. Um die dafür notwendige Mindestschülerzahl von 50 pro Jahrgang zu erreichen, will er mit anderen Sekundarschulen kooperieren.
An den Tischen im Flur wird derweil immer noch gearbeitet. Ein Junge hat seinen Tablet-Computer vor sich liegen. Warum, fragt Thiel. Seine Klassenlehrerin habe es erlaubt, sagt der Schüler, damit er arbeiten könne, obwohl in der Schule heute der Server ausgefallen sei. Thiel nickt.