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Evolution Evolution: Die Spur der Schnecken

Von ANTONIE STÄDTER 11.02.2009, 20:57

HALLE/MZ. - Wenn es regnet und nicht zu kalt ist, zieht es Christian Anton immer wieder in die Natur. Denn dann kommen die "kleinen Schleimer" aus ihren Verstecken, die es dem Biologen angetan haben. Seit eineinhalb Jahren beschäftigt er sich mit Bänderschnecken. "Interessante Lebewesen", findet der 35-Jährige. Dabei hat er seine Feldstudien bis dahin bevorzugt bei Sonnenschein betrieben - denn Anton ist eigentlich Schmetterlingsforscher. Dass gerade die Bänderschnecken - für manchen Wissenschaftler eher Allerweltsschnecken - seine Aufmerksamkeit erregten, hat mit einem Projekt zu tun, das einmalig ist. Von Donnerstag an sollen Menschen aus ganz Europa erfassen, an welchen Orten die Schnecken in welchen Variationen vorkommen. Damit soll die Evolution dieser Art aufgeklärt werden. Mitmachen kann jeder. Anlass ist der runde Geburtstag des Evolutionsbiologen Charles Darwin, der am Donnerstag vor 200 Jahren geboren wurde - und dem in Deutschland ein ganzes Aktionsjahr gewidmet ist.

Tausende Teilnehmer erwartet

"Das ist in Europa bislang der größte Versuch, die Leute an einer wissenschaftlichen Studie zu beteiligen", sagt Christian Anton. Der Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle (UFZ) koordiniert das Projekt "Evolution MegaLab" deutschlandweit, das in Darwins Heimat England entstand. 14 europäische Länder beteiligen sich. Anton rechnet in Deutschland mit tausenden Teilnehmern. Hier wird das Vorhaben mit 100 000 Euro von der Volkswagen-Stiftung unterstützt. Zur Zielgruppe gehören nicht nur interessierte Naturliebhaber sondern auch Schüler. "Demnächst werden den Lehrern im Internet auch Materialien für den Unterricht bereitgestellt", so Anton. Die Bänderschnecke eignet sich hervorragend für das große Forschungsvorhaben, erzählt er: "Sie ist für Laien als Art gut erkennbar und man findet sie fast überall, wenn man genau hinschaut: in Gärten, Wäldern oder Parks - und zwar von Norwegen bis Portugal." Daneben gehören die vermeintlichen Allerweltsschnecken wegen ihrer Färbung zu den variabelsten Schnecken überhaupt: Ihr Gehäuse ist - je nach Lebensraum - rot, gelb oder braun, sie haben bis zu fünf Bänder. Manchmal indes fehlen diese auch ganz. Alles eine Frage der Evolution. Mit Hilfe von historischen Daten soll nun abgeglichen werden, welchen Beitrag die Selektion in den letzten Jahrzehnten geleistet hat: Gibt es heute aufgrund des Klimawandels mehr gelbe Bänderschnecken, weil sie an warme Temperaturen besser angepasst sind als dunkle? Welche Rolle spielt die Singdrossel, ihr Fressfeind, der in den vergangenen Jahren vielerorts seltener geworden ist?

Dreh- und Angelpunkt des Evolutionsprojekts ist die Webseite www.evolutionmegalab.org
, auf der jeder seine Beobachtungen in detailgenauen Karten eintragen kann. Dort gibt es auch Anleitungen und Erfassungsbögen, mit denen man in freier Natur kinderleicht forschen kann. Durch viele kleine Beiträge soll so ein Bild des großen Ganzen entstehen.

Überraschende Entdeckung

"Um die Evolution selbst zu erleben und zu erforschen, muss man nicht wie Darwin nach Galapagos reisen. Evolution findet auch bei uns jeden Tag vor der Haustür statt", sagt Christian Anton. Bei seinen Recherchen zur Bänderschnecke stieß er auch auf einen gewissen Franz Alfred Schilder (1896-1970), ein Zoologe, der Mitte des vorigen Jahrhunderts einen Lehrauftrag an der halleschen Martin-Luther-Universität besaß.

So schloss sich ganz zufällig ein Kreis, denn: Der gebürtige Österreicher Schilder ist es gewesen, der die in Deutschland bis heute größte und bedeutsamste Bänderschneckensammlung anfertigte - und rund 80 000 Schneckengehäuse auch wissenschaftlich ausgewertet hat. "Niemand hat die Forschungen zu der Art intensiver betrieben als er", sagt Anton. Und fügt hinzu: "Das war eine lustige Fügung, dass gerade wir in Halle das Thema im Darwin-Jahr wieder auspacken."

Obwohl Franz Alfred Schilder sein gesamtes Forschungswerk einem Museum in Frankfurt (Main) übereignen wollte, behielt es die DDR nach seinem Tod im Osten Deutschlands: Es wurde nach Berlin gebracht. Im dortigen Museum für Naturkunde schwärmt der Leiter der Forschungsabteilung und Weichtier-Spezialist Matthias Glaubrecht vom Umfang der Sammlung, die im Frühjahr ihrem eigentlichen Bestimmungsort, dem Senckenberg-Museum in Frankfurt, übergeben werden soll: "Diese Sammlung ist einmalig. Sie enthält Tausende Gehäuse." Schilder hatte diesen Schatz in Zigarettenboxen aufbewahrt - so lagern sie noch heute aufgestapelt im Forschungsbereich des Berliner Museums.

In Reminiszenz an den leidenschaftlichen Bänderschneckenforscher werden Vertreter des UFZ im Juni mit Schülern des halleschen Georg-Cantor-Gymnasiums eine Forschungsreise auf die Insel Hiddensee unternehmen. Denn, so Anton: "Dort hatte schon Franz Alfred Schilder jeden Busch nach den Schnecken abgesucht."