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Ein tiefer Riss in Sachsen Ein tiefer Riss in Sachsen: Streit um Pegida spaltet ein Bundesland

Von Bernhard Honnigfort 27.01.2015, 10:59
Pegida-Demonstranten haben die Flagge Sachsens mit ihrem Schriftzug versehen.
Pegida-Demonstranten haben die Flagge Sachsens mit ihrem Schriftzug versehen. dpa Lizenz

Dresden - Ein älterer Herr an der Elbe. Er ist mit seinem Jagdhund zwischen Waldschlösschenbrücke und dem Blauen Wunder unterwegs. Ein Gespräch beginnt. Über das Wetter, über Hunde, über Dresden. Er ist schnell in der Politik angekommen. „Parteien und das alles? Brauchen wir nicht“, sagt er. „Ich wünsche mir einen guten Diktator.“ Der Mann ist Rentner, es geht ihm gut.

In der Hauptstraße beim Goldenen Reiter. Eine kleine Oma, an der Hand ihr vielleicht sieben Jahre altes Enkelkind. Es geht um Moslems. Sie redet: „Nein, diese Leute in den langen Gewändern, die sich beim Beten hinknien, die wollen wir hier nicht haben.“ Das Mädchen: „Wenn die beten, dann können die doch nicht arbeiten?“ Die Oma: „Nein, das können die nicht.“ Das Mädchen: „Dann wollen wir die hier nicht haben.“

Aufgeschnappt in Dresden.

Am Dienstagabend sitzt Landesbischof Jochen Bohl in der Frauenkirche. Große Diskussion: „Was will das Volk?“ Bohl lebt seit 20 Jahren in Dresden. Er ist ein nüchterner, kluger, freundlicher Mann, wirkt traurig und mitgenommen. „Das Klima ist unerfreulich geworden“, sagt er. „Etwas so Hasserfülltes ist in der Stadt, in der ich so gerne lebe. Das bekümmert mich.“

„Was will das Volk?“

Es geht vielen in Dresden gerade wie dem Bischof. Ein tiefer Riss geht durch die Stadt. Er ist sichtbar und spürbar, seit Pegida mit immer mehr Leuten im Schlepptau durch Dresden zieht, gegen die „Asylindustrie“ schimpft, Politik und Medien pauschal zu Lügnern erklärt oder Merkel Kriegsvorbereitungen gegen Russland unterstellt.

Der Riss geht tief und mitten durch alles, durch das Schauspielhaus, durch die Dresdner Museen, durch Firmen, Sportvereine, Freundschaften. Er trennt sauber in Pegida-Anhänger und Pegida-Gegner. Die Stadt ist politisiert, ist aus den Fugen und aufgeladen wie nie seit dem Jahr 1990.

Ein junger Mann erzählt. Er arbeitet in einem Museum. Die jüngeren Mitarbeiter mit den Werkverträgen, schlechter bezahlt, von überall her nach Dresden gekommen, demonstrieren gegen Pegida. Die älteren Mitarbeiter mit den Verträgen aus DDR-Zeiten, besser dotiert, „immer am Meckern“, die gehen zu Pegida.

Warum Dresden? Warum Sachsen? Warum kocht gerade dort die Volksseele und nicht in Schwerin, Wiesbaden oder Bremen? Dresden, meint Johannes Lichdi, wäre gerne eine europäische Kulturmetropole, ist in Wahrheit aber ein „engherziges und borniertes Provinznest“. Eine Stadt, in der viele Bürger die Entwicklung nach 1989 „nie verstanden oder akzeptiert“ haben. „Belogen und betrogen“ fühlten sich etliche Nach-Wende-Dresdner, sie kämen nicht zurecht mit der „Verwirrung offener Gesellschaften“ ohne eindeutige Autoritäten, wo jeder „seinen eigenen Weg suchen muss.“

Johannes Lichdi ist Dresdner. Er ist wütend, er ist Anwalt und sitzt für die Grünen im Stadtrat. Sein Urteil schießt übers Ziel hinaus, er beschreibt eine Minderheit, gewiss nicht ganz Dresden.

Aber andere sehen Ähnliches: „Wir stellen in Sachsen schon lange ein Demokratiedefizit fest“, sagt der Bielefelder Politikwissenschaftler Andreas Zick. „Es gibt bei vielen den autoritären Wunsch nach einer starken Person an der Spitze.“

Bessere Integration von Flüchtlingen

Mittwochabend im Dresdner Kongresszentrum: Die Landesregierung lädt das Volk zum Dialog. 300 Leute, verteilt auf 50 Tische. Über 400 bewarben sich, es wurde gelost. Viel Pegida, aber keine Schimpfer. Seit Pegida ist die CDU/SPD-Landesregierung in Panik, das Land ist unruhig.

Der christdemokratische Ministerpräsident Stanislaw Tillich redet mit an diesem Abend. An den Tischen wird über Asyl, Integration und Zuwanderung diskutiert. Man redet miteinander, man übt Kommunikation, man fängt vorne an. Dann wird vorgetragen. Tisch 20, eine junge Frau: „Wie wird garantiert, dass sich Ausländer in Deutschland an das Grundgesetz halten?“ Tisch 2, ein Appell an die Politik: „Leute, versucht so rüberzukommen, dass die Menschen euch verstehen.“

Tisch 18: Für eine bessere Integration von Flüchtlingen. Schneller muss es gehen, Bürger müssen zeitnah informiert werden. An vielen Tischen: Angst vor Parallelgesellschaften wie in Berlin-Neukölln. So etwas muss verhindert werden. Und natürlich, die Rolle der Medien, ein älterer Herr von Tisch 2 erhält großen Applaus: „Berichten Sie so, dass die Menschen sagen: Ja, so isses!“ Die Landesregierung will die Veranstaltung fortsetzen. Und muss es wohl auch.

Ein Eindruck: Die Mauer könnte auch erst vorgestern gefallen sein. Hier ticken West und Ost noch sehr anders. Das Verständnis von Politik ähnelt einem Pizza-Service: „Die da oben“ müssen genau das liefern, was das Volk will. „Die da oben“ haben auf das Volk zuzugehen und es zu verstehen. Wenn es nicht klappt, schreibt man Briefe an Merkel oder Gauck oder geht auf die Straße. Dort ruft man wieder: „Wir sind das Volk!“ und lehrt „die da oben“ das Fürchten. Pegida-Bürger halten sich für das Volk. Man ist nicht Gesellschaft oder Teil eines Staates, in dem jeder mitmachen sollte. „Man will sich selbst nicht einbringen in die Gesellschaft. Man formuliert nur Forderungen und fragt nicht: Was ist mein Beitrag?“, sagt Grit Hanneforth. Die Dresdnerin leitet seit vielen Jahren das „Kulturbüro Sachsen“, eine Aufbauorganisation für Demokratie.

Wie zu DDR-Zeiten

Kurt Biedenkopf regierte Sachsen von 1990 bis 2002. Er war nicht „der gute Diktator“, aber er war „König Kurt“, der Landesvater. Er war eine Autorität, er nahm die Sachsen im wiedervereinigten Deutschland an die Hand und führte sie durch schwierige und harte Jahre, in denen kein Stein auf dem anderen blieb: Schulen, Universitäten, die komplette Wirtschaft, das Arbeitsleben, die Politik - alles wurde auf Bundesrepublik umgekrempelt. Biedenkopf machte das brillant und wurde dreimal mit Ergebnissen deutlich über 50 Prozent gewählt. Er wusste genau, was für ein Volk sich ihm damals anvertraut hatte.

Sein Frau Ingrid wurde zum Kummerkasten der Sachsen. An sie schrieben alle, wenn sie Ärger hatten. Sie bekam ein eigenes Büro und funkte in den Regierungsapparat, wenn es ihr notwendig erschien. Ein Eingabesystem wie zu DDR-Zeiten, als das Volk Erich Honecker Bittbriefe schrieb.

Politische Bildung, Demokratieförderung - all das kam in den Jahren ein bisschen kurz. Nun, nach dem Pegida-Schock, heißt es: Zurück auf Los! Die Luft brennt. Jetzt muss geredet und zugehört werden. „Wir müssen über politische Bildung ganz neu nachdenken“, sagt Frank Richter. Er ist der Leiter der Landeszentrale für eben diese Bildung, er ist eine Legende der friedlichen Revolution in Dresden. Er ist der Mann, der den Dialog zwischen Dresdnern und Pegida-Dresdnern organisieren soll.

Freitagabend im Dresdner Stadtmuseum: 200 Leute, in der Mitte ein Tisch, vier Stühle. Jeder darf drei Minuten etwas sagen. Dampf ablassen, möglichst zivilisiert. Einer spricht, alle hören zu. Applaus und Buhen unerwünscht.

„Montags spazieren gehen“

Es geht heftig zur Sache. Lutz Bachmann, der Pegida-Anführer, der sich im Hitler-Look ablichten ließ, der angeblich nichts gegen Ausländer hat, aber, wie er selbst einräumte, Flüchtlinge im Netz als „Viehzeug“ und „Dreckspack“ beschimpfte? Ein Opfer von „Hinrichtungsjournalismus“, meint ein Mann. Ein anderer verlangt: Wahlpflicht! Demokratie zurückfordern! Schluss mit den Parteien, man wähle einfach die „eigenen Leute“ in die Parlamente. Lobbyisten aus dem Bundestag „eliminieren“. Ein Mann aus Ottendorf-Okrilla: Zu DDR-Zeiten bekam man Antwort von der „Obrigkeit“. Heute redet man sich den Mund fusselig.

Dann meldet sich Wilfried Schulz, er ist Intendant des Schauspielhauses. Er versteht es nicht: Diese reiche Stadt mit ihrem „künstlichen Stolz“, ihrer Kultur, den vollen Theatern, den Orchestern, Museen, den Galerien. So kunstsinnig und gleichzeitig in weiten Teilen so herzlos: „Es deprimiert mich.“ Er erzählt von einem dunkelhäutigen Schauspielschüler, der nach Dresden kommen wollte und es sich anders überlegte. Sofort wird Schulz ausgebuht. „Stimmt doch gar nicht““, rufen Leute. „Hörensagen.“

„Machen Sie es sich nicht zu leicht?“, fragt am Ende der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach. „Montags spazieren gehen“ statt mal im Ortsverband einer Partei mitzumachen? Dann ist Schluss. Frank Richter wirkt müde und abgespannt. Demnächst Fortsetzung.

Parlament ist keine Schwatzbude

Dresden? Die Wut? Das Unverständnis? Es ist ein Puzzle aus tausend Teilen. Ein Mitarbeiter aus dem Landtag erzählt: Schulklassen werden durch das Parlament geführt. Mitarbeiterinnen des Hauses erklären, wie Gesetze gemacht werden, was Ausschüsse tun, was im Plenum passiert. Manchmal ist ein Abgeordneter dabei. Schulklassen sitzen auf der Tribüne und sehen zu, wie sich Abgeordnete beharken und dann ein Tierseuchengesetz verabschieden. „Glauben Sie“, fragt der Mitarbeiter, „dass hier in den vergangenen 25 Jahren ein Landtagspräsident auf Schulklassen zuging? Man könnte doch zweimal pro Woche mit Schülern reden, ihnen aus eigenem Erleben erzählen, warum so ein Parlament keine Schwatzbude, sondern eine zivilisatorische Errungenschaft ist, warum in der DDR 1989 Bürger auch für so etwas auf die Straße gingen?“ Er schüttelt den Kopf: „So etwas ist hier nicht üblich.“