Die Piraten Die Piraten: Auf Kaperfahrt
BERLIN/Halle (Saale)/MZ. - Wer die Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus aufsucht, der begegnet einer Welt, die genau so aussieht, wie er sie sich vorstellt. Junge Männer sitzen dort schweigend hinter Computern. Einer von ihnen hat sich ein Palästinenser-Tuch um den Kopf gebunden. Ein anderer in Kapuzenjacke schlurft ins Freie, um zu rauchen. Frauen sind nicht zu sehen. Dafür sitzt der heimliche Star der Piraten, Christopher Lauer, etwas missmutig in seinem Büro. Er hatte sich gerade am Abend zuvor vom rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck (SPD) attackieren lassen müssen. Dieser befand im ZDF, Lauer gebe bloß "Schnickschnack" von sich.
Es dauert ein wenig, bis man zu Martin Delius im fünften Stock unterm Dach gefunden hat, den Parlamentarischen Geschäftsführer der Piratenfraktion. Er ist 27 Jahre alt, in Halle geboren. Zum Gespräch wechseln wir in den Innenhof.
Drei Tage später meldet sich Henning Lübbers. Er ist Landesvorsitzender der Piraten in Sachsen-Anhalt. An Delius und Lübbers kann man den Aufstieg des neuesten Sterns im deutschen Politikbetrieb gut erkennen, der an der Demoskopie-Börse inzwischen mit zwölf Prozent gehandelt wird.
Delius hat ein paar Jahre Physik studiert und als Softwareentwickler gearbeitet. An der Uni war er Jahre lang in Gremien aktiv, aber nie parteigebunden - bis er auf die Piraten stieß. "Ich bin 2009 eingetreten, weil die Partei genau so grundlegende Fragen nach Demokratie stellt wie ich und sogar willens ist, sich selbst abzuschaffen, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat", sagt der Mann mit dem langen Haar und dem Dreitage-Bart, dem grauen Jackett und der grauen Kapuzenjacke. "Partizipation, Beteiligung, Transparenz" - das ist es, worum es Delius geht.
Am 18. September kandidierte er für das Berliner Abgeordnetenhaus und zog mit 14 weiteren Parteifreunden auch ein. Heute managt Delius die Fraktion, die neben 15 Parlamentariern 19 Fraktions-Mitarbeiter hat, und bezieht eine monatliche Diät von 3 309 Euro brutto, dazu eine steuerfreie Kostenpauschale von 990 Euro. In Halle und Magdeburg hat er schon Schulungen in Liquid Feedback gegeben. Das ist die Software, mit deren Hilfe die Piraten ihre interne Meinungsbildung organisiert.
Anders als Lauer steht Delius nicht im Verdacht des Karrierismus. "Irgendwann sind wir Teil des etablierten Systems", erklärt er, fügte jedoch hinzu: "Bis dahin wird sich das System auch uns annähern müssen." Gelinge dies, sei "schon einiges erreicht". Delius ist da, wo Henning Lübbers mal hin will. Der ist 24, in Salzgitter geboren, ausgebildeter Bauzeichner und seit dem August 2010 Sachsen-Anhalts Oberpirat. Zwar nimmt der Landesverband langsam Konturen an. Allein seit der Saarland-Wahl ist die Mitgliederzahl um 60 auf 460 gewachsen. "Es kommen extrem viele neue Mitglieder hinzu", sagt Lübbers, der gerade noch das Abitur nachholt, um später noch studieren zu können. "Ein Ende ist derzeit nicht abzusehen."
Neben den drei Kreis- und Regionalverbänden Altmark, Magdeburg und Anhalt biete sich nun die Gelegenheit, "vernünftige Strukturen zu bilden". Bei der Oberbürgermeisterwahl in Halle präsentieren die Piraten mit Christian Kunze einen eigenen Kandidaten. Dennoch ist noch viel zu tun. Reichlich Stoff für den Landesparteitag am 15. April in Magdeburg. Es gebe, räumt Lübbers ein, bisher keinen Piraten im Land, der ein kommunales Mandat errungen habe. Beim Ausbau des Internet liege das Land an letzter Stelle, das soll sich ändern. Die Sachsen-Anhalt-Piraten wollen außerdem den Haushalt sanieren und einen "Bürgerhaushalt" schaffen, "so dass die Leute, wenn Einsparungen anstehen, mitentscheiden können, wo eingespart wird". Den Landesrechnungshof wollen sie stärken, um Missmanagement vorzubeugen. Auch soll es keine "Geheimverträge" zwischen öffentlichen Institutionen und privaten Unternehmen mehr geben. Dabei gilt einerseits Bescheidenheit. "Wir sind nicht diejenigen, die die Antworten liefern, sondern diejenigen, die Fragen stellen", stellt der Vorsitzende fest. "Die Antworten kommen vom Bürger." Andererseits trumpft der junge Mann auch gern mal auf. Denn wenn sich Finanzminister Wolfgang Schäuble oder Kanzlerin Angela Merkel (beide CDU) irgendwo hinsetzten, glaubt er, "dann haben sie von dem, was sie dort reden, auch nicht wirklich Ahnung. Da werden nur hohle Phrasen gedroschen."
Mit den Piraten in Sachsen-Anhalt ist jedenfalls noch zu rechnen - wenn, ja wenn die Popularitätswelle bei der nächsten Landtagswahl nicht schon wieder abgeebbt ist. Die Wahl findet 2016 statt. Und vier Jahre sind verdammt viel Zeit für eine Welle.