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Demografischer Wandel Demografischer Wandel: Wir machen es selbst

Von Alexander Schierholz 01.08.2013, 04:51
Umweltminister Onko Aeikens: „Abwasserentsorgung ist etwas für Profis.“
Umweltminister Onko Aeikens: „Abwasserentsorgung ist etwas für Profis.“ dpa Lizenz

Magdeburg/MZ - In Güssing im österreichischen Burgenland haben sie eine Energiegenossenschaft gegründet und versorgen sich selbst. Obergruna in Sachsen klärt sein Abwasser in Eigenregie. Im Fläming, Brandenburg, sorgt der Bürgerbus dafür, dass ältere Einwohner mobil bleiben. In Stendal helfen Ehrenamtliche bei der Betreuung und Pflege von Senioren. Immer öfter übernehmen Menschen gerade in ländlichen Regionen einen Teil der Grundversorgung.

Raumpioniere nennen der Chef des Dessauer Bauhauses, Philipp Oswalt, und die Architektin Kerstin Faber solche Initiativen, die sich dem demografischen Wandel, Abwanderung und Überalterung, entgegen stellen. Im Frühjahr hatten Oswalt und Faber mit drei Szenarios über Sachsen-Anhalt im Jahr 2050 heftige Debatten ausgelöst. Gestern stellten sie ihre Thesen bei einer Diskussion in Magdeburg vor, organisiert vom Umweltministerium. Minister Hermann Onko Aeikens (CDU) hatte seinerzeit Workshops zu dem Thema angekündigt - nun war Premiere.

Oswalts steilste These blieb auch nach mehreren Stunden Diskussion umstritten: Der Bauhaus-Direktor forderte, der Staat müsse sich mit der Daseinsvorsorge aus dünn besiedelten Regionen zum Teil zurückziehen und dafür den Bewohnern dort ermöglichen, ihr Leben selbst zu regeln. „Wir müssen weg vom Prinzip des Bürgers als Konsumenten, das funktioniert nicht mehr“, sagte der Wissenschaftler.

Mehr Spielraum für "Raumpioniere" durch gesenkte Standards

Sein Rezept: Um den „Raumpionieren“ Spielraum zu geben, müssten in vielen Bereichen heute gültige Standards gesenkt werden, etwa was Vorschriften zu Öffnungszeiten oder Hygiene bei kleinen Dorfläden angehe. Einen ungeahnten Verbündeten haben Oswalt und Faber in Hans-Jürgen Leindecker. Auch der Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes plädiert für abgesenkte Normen, angepasst an die jeweilige Situation, etwa bei der Abwasserentsorgung oder bei Kitas.

Wie notwendig das offenbar ist, zeigen zwei kleine Geschichten: Leindecker sagte mit Blick auf das Beispiel der österreichischen Energiegenossenschaft in Güssing, in Sachsen-Anhalt könnte es schon 20 bis 25 solcher Projekte geben, das Kommunalrecht lasse das aber nicht zu. Die Kommunalaufsichten hätten ein solches Engagement der Gemeinden deshalb verboten.

Oswalt berichtete von der Kita seiner Tochter, in der selbst gekocht worden sei, gemeinsam mit den Kindern. Nun sei die Kita mit einer anderen zusammengelegt worden - und das Essen komme aus einer Großküche, unter anderem aus hygienischen Gründen. „Da hätte man auch eine vernünftige andere Lösung finden können.“

Nun ist Hermann Onko Aeikens vermutlich der letzte, der Kindern die Erfahrung des eigenen Kochens nehmen will. Bei der Absenkung von Standards aber wurde der Umweltminister hellhörig. Zu Kitas äußerte sich Aeikens zwar nicht, wohl aber zum Abwasser. Dessen Entsorgung wie in Sachsen in Eigenregie zu organisieren, damit habe er ein Problem, sagte er. „Das ist etwas für Profis, nicht für Hobby-Entsorger, wenn man keine Umweltschäden riskieren will.“

Der Minister räumte aber ein, dass sich das Land von einem hundertprozentigen Anschlussgrad bis ins letzte Gehöft längst verabschiedet habe. „Uns genügen auch 92 oder 93 Prozent.“ Bevor man aber ganze Dörfer vom Netz nehme, müsse man weiter Kosten senken. „Da haben die Abwasserverbände ihr Potenzial noch nicht ausgeschöpft.“

Philipp Oswalt, Direktor Bauhaus Dessau: „Der Bürger als Konsument, das funktioniert nicht.“
Philipp Oswalt, Direktor Bauhaus Dessau: „Der Bürger als Konsument, das funktioniert nicht.“
Lutz Sebastian Lizenz