Spechsart Spechsart: Balkon der Domstadt
Naumburg - Alle Wege führen nach Rom“ - diesen weltläufigen Spruch, dessen mittelalterlicher Ursprung in der Bedeutung der einstigen römischen Metropole und des Vatikans zu suchen ist, auf den Naumburger Straßenzug Spechsart anwenden zu wollen, wäre sicher gar zu vermessen. Dennoch: Mit der Bergstraße, der Peter-Paul-Straße, der Nordstraße, dem Lerchenweg, der Spechsart-Treppe, der Siedlungsstraße, der Sperlingsgasse, mit Domblick und Auenblick gibt es in der Tat etliche Möglichkeiten, den Spechsart im Nordwesten der Domstadt entlang der Hangkante zur Saaleaue zu erreichen.
Für die, die hier zuerst ihre Häuser erbauten, erwies sich sicher der weite Blick ins Saaletal und hinüber zu den Weinbergen als attraktiv. Einen guten Kilometer lang zieht sich der „Balkon von Naumburg“ hin - vom Abzweig von der Bergstraße bis zum Straßenknick zum Auenblick. Es ist mit kleinen Ausnahmen eine reine Wohngegend, ohne Kirchen, Museen, Geschäfte und sonstige kulturelle Sehenswürdigkeiten. Über die Bebauung des Spechsart gibt es im Naumburger Kreisblatt in einer Annonce im Mai 1870 diesen Hinweis: „Heute Abend in Dunkelsberg Restauration Schweinsknöchel mit Sauerkraut“. Nun, „Dunkelsbergs Garten“, wie das Restaurant später genannt wurde, erlebte Ende der 1950er Jahre seinen Niedergang. Das Gebäude Nr. 26 verfiel und wurde letztlich abgerissen. Das Grundstück ist heute mit einem nagelneuen Reihenhaus bebaut.
Interessantes haben wir zufällig, ohne es vorher auch nur zu erahnen, am nördlichen Ende des Spechsart zu sehen bekommen. Linkerhand, am letzten Haus an der Hangkante, kurz vorm Straßenknick zum Auenblick, ertönt der Lärm einer Kreissäge. Joachim Tauhardt, der mit seiner Familie seit 1962 hier wohnt, schon seine früheste Kindheit verlebt hat, baut im alten Hause um. Das Haus wäre noch im 19. Jahrhundert errichtet worden, hat er erfahren. Seine Eltern hatten es dann um 1960 erworben. Noch im Adressbuch von 1939/1940 werden die Witwe Ida Sproß und der Tischler Franz Melchrick als Bewohner genannt. Letzterer könnte für eine Besonderheit gesorgt haben.
Joachim Tauhardt führt uns in seine Wohnstube und zeigt uns die Zimmerdecke. Sie ist getäfelt, reich verziert, das Holz schon etwas nachgedunkelt, alles sehr gediegen und edel. „Auch im unteren Geschoss, in der meine Mutter ihre Wohnung hat, gibt es eine solche Holzdecke“, sagt Tauhardt. Und er weiß, dass für die Täfelung die Bohlen des letzten von Saalfeld, Uhlstädt und Camburg her geflößten Holzes genutzt worden sein soll. Überdies, so der bei der Bahn beschäftigte handfeste Mann, störe ihn der Lärm, der vom Bahnhof und den Gleisen her nach oben dringt, nicht im Geringsten. „Wir leben ruhig hier. Es gibt sehr selten Störungen, Einbrüche oder Diebstähle. Ich vermute mal, dass die Streifen, die die Polizisten vom nahen Revier aus des Öfteren durchs Siedlungsviertel fahren, ihre Wirkung haben.“ Und noch eins merkt Joachim Tauhardt an: „In diesem Haus könnte sich früher eine Freimaurer-Loge befunden haben …“
Wir gehen an der Hangseite die Straße wieder ein Stück zurück. Durch dichtes Strauch- und Buschwerk beinahe verdeckt, erahnen wir etwas unterhalb ein Haus mit einer auffälligen Fassadeninschrift. Hier hat Horst Astroth (1923-2017) mit Ehefrau Gisela gelebt, dieses Haus erbaut. Die Inschrift bezieht sich auf seinen Start in Rom 1960 bei den Olympischen Sommerspielen im 50-km-Gehen und den Zeitraum, im dem dieses Haus entstand.
Über einen, zumindest in früheren Jahren, für die Naumburger sehr wichtigen „Verkehrsknoten“ müssen unbedingt einige Worte fallen. Dort, wo die Nordstraße und der Lerchenweg in den Spechsart münden und der eine scharfe Wendung nach Westen vollzieht, gibt es eine Treppe, die hinunter in die Saalestraße führt. Dieser Weg in die Ebene stellte die schnellste fußläufige Verbindung zum Bahnhof dar. Generationen von Schichtarbeitern, die in Leuna oder Buna in Lohn und Brot standen, nahmen ihn Tag für Tag, am frühen Morgen und nach der Arbeit. Auch Schüler gingen den Weg, wenn sie im Sommer zum Sportunterricht ins Richard-Locker-Stadion „gebeten wurden“. Es soll auch Trainer von Fußballmannschaften gegeben haben, die ihre Schützlinge zum Konditionstraining angeblich die 120 Stufen mit den zehn Zwischenpodesten mehrfach hoch und runter gejagt haben. Auf jeden Fall diente die Treppe früher Fußballfans, die ein Spiel auf dem Ascheplatz sehen wollten, als kostenlose Zuschauertribüne.
Ein Stück vom Treppenaufgang entfernt, befand sich über Jahrzehnte hinweg tatsächlich ein beliebter Anziehungspunkt: der „Saaletalblick“ mit seinen gastronomischen Angeboten. Ende der 1930er Jahre stand hier der legendäre Martin Haupt hinterm Tresen, der später auch in der „Zille-Stube“ das Bier zapfte. Was es hier an Familienfeiern, Hochzeiten, Betriebsfesten, Versammlungen und privaten Gaststättenbesuchen gegeben hat, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Der Aufenthalt auf der Terrasse war besonders begehrt, speziell wenn es im Stadion Fußballspiele gab. Einige Zeit mussten sich Fußballer übrigens hier oben umziehen, weil unten an der Saalestraße die kleine Holzbaracke mit dem Schankraum und den Umkleidekabinen fast aus den Nähten platzte. Bis etwa zum Jahre 2000, dann war auch im „Saaletalblick“ Schluss. Heute ist das Grundstück Wohnungen vorbehalten. Die Bewohner haben den Blick ins Saaletal, Stadion und Bahnhofsviertel nach wie vor frei Haus.
Seit 1976 ist Kunstglasermeister Lutz Gärlich mit Werkstatt und Wohnung Nachbar des ehedem gastlichen Orts. Tischlermeister Alfred Heineck hatte hier vordem seine Werkstatt. Ein Brand vernichtete das Anwesen. Lutz Gärlich konnte das Grundstück kostengünstig erwerben. Es führt immerhin über den ganzen Hang hinunter bis zum Gartenweg. Das Meiste am Spechsart bleibt privat. Eine Mischung an alten imposanten Villen, neuen Eigenheimen und Reihenhäusern sowie mehrgeschossigen, langgestreckten Wohngebäuden ist hier vorzufinden. Ganz am Ende des Spechsart - oder vom Georgenberg her gesehen, am Anfang - fällt eine dreieckige, meist sehr gepflegte Grünanlage auf. Mittendrin das Jägerdenkmal, vom Stadtbaurat Fritz Hoßfeld entworfen und von Steinmetzmeister Karl Kruschwitz in die Tat umgesetzt, am 1. Juli 1923 für die Gefallenen und Toten des in Naumburg stationierten Jäger-Bataillons geweiht. Heute sind Denkmal und Wirken des Jäger-Bataillons zu Kaiser-Zeiten und im Ersten Weltkrieg bei Historikern in deren Bewertung umstritten.
Noch zwei eigene Anmerkungen: Wir Kinder bezeichneten das Denkmal in den 1950er Jahren ganz einfach und salopp als „Suppenterrine“. Und ich entdeckte bei meinem Streifzug im Adressbuch von 1939/40 auch meine erste Klassenlehrerin aus der Michaelisschule, Charlotte Nicolaus, als eine der Bewohnerinnen am Spechsart.