Musik Musik: Eine Hommage an Otto Carl Claudius
naumburg - Der Tag neigt sich, noch aber ist die Dämmerung nicht angebrochen. Wind rauscht durch die Linden, sanft biegt sich das frische Grün der Blätter. Der Regen hat die Luft sauber gewaschen. Bis in alle Feinheiten zeichnen sich die Konturen der einige Hundert Meter entfernten Domtürme ab. Wolken türmen sich im Graublau des Himmels, letzte Sonnenstrahlen brechen rötlich hindurch.
Brillant: „Variazioni brillanti“
Im Saal der Musikschule des Burgenlandkreises in Naumburg erklingt ein „Nocturne“ von Otto Carl Claudius. Das leichte Grün des Raumes und die großen Fenster, die Natur und Dom hereinholen, unterstreichen den Charakter dieser Abendmusik. Heitere, beschwingte Passagen wechseln mit leisen, scheinbar melancholischen Abschnitten, dann wieder gewinnt die Musik an Farbigkeit, blickt Erhabenheit durch. Entstanden zwischen 1823 und 1829 noch in Leipzig, gehören die drei Nocturnes in A-Dur zu den kleinen Formen, die Otto Carl Claudius (1794-1877) geschrieben hat. Die Naumburger Pianistin Irina Krümmling trägt sie am Flügel brillant vor, lässt ihnen den nötigen Raum und die nötige Ruhe, zieht dort das Tempo an, wo es die Dynamik erfordert.
Die Zuhörer staunen, noch mehr jedoch über die als zweites Stück folgenden „Variazioni brillanti“, die Claudius für seine 17-jährige Klavierschülerin Karolina Overweg in Naumburg schrieb. Denn trotz der wiederkehrenden Variationen enthält das Werk überaus schnelle Wechsel und Tempi, die der Pianistin einiges abverlangen. Weshalb also, so fragen sich die Besucher dieses Abends, konnte so ein Werk in Vergessenheit geraten?
Aus dieser Vergessenheit herausholen will der Naumburger Otto Democh die Werke des Kantoren, Chorleiters und Komponisten Otto Carl Claudius. Seit Jahren beschäftigt sich Democh, der dem Sängerkreis Saale-Unstrut-Elster als Chorleiter vorstand und der den Naumburger Claudius-Männerchor leitete, mit dem Leben und Werk seines einstigen Vorgängers.
In einer Veranstaltung des Vereins Kunst in Naumburg stellte Democh nun Ergebnisse seiner Nachforschungen vor, zeichnete ein detailliertes Bild der Biografie des Musikers und ging der Frage nach, weshalb es ihm zu Lebzeiten trotz seiner intensiven Arbeit und seines interessanten kompositorischen Schaffens nicht gelang, über Naumburg hinaus in den musikalischen Zentren Deutschlands nachhaltig bekanntzuwerden.
Miersch: Nicht so, wie gewünscht
„Claudius ist eine Persönlichkeit, die in und für Naumburg viel bewirkt hat, dennoch ist sie heute in der Stadt nicht so bekannt, wie man sich das wünscht“, eröffnete Kunstvereinsvorsitzender Tobias Miersch den Abend. Anliegen des Vereins sei es, Claudius wieder mehr in das öffentliche Bewusstsein zu rücken, seine Kompositionen aufzuführen. Der Kunstverein knüpfe damit an einen ähnlichen Abend an, der im Mai 2013 der Naumburger Komponistin Luise Haenel de Cronenthal (1836-1869) gewidmet war. Außerdem, so Miersch weiter, freue er sich, dass mit den Nachforschungen Otto Demochs „Lücken in der Aufarbeitung der Claudius-Biografie geschlossen und Fehleinschätzungen korrigiert“ werden können.
Hörbar gemacht werden sollen die Bemühungen des Kunstvereins außerdem durch eine CD zur „musikalischen Geschichte Naumburgs“, so der Arbeitstitel. Denn am Ende der rund zweistündigen Veranstaltung kündigte Irina Krümmling an, Werke von Haenel de Cronenthal und Claudius für eine CD einspielen zu wollen. Sie soll im nächsten Jahr veröffentlicht werden. Zu hoffen bleibt, dass auch andere Kompositionen von Claudius - so die von Irina Krümmling und der Bad Kösener Sängerin Tina Stephan eindrucksvoll vorgetragenen Lieder des Komponisten - wieder in Konzerten zu hören sind. Geboten wurden das „Gondellied“ op.36, Nummer 2, das zusammen mit fünf weiteren Liedern nach 1865 veröffentlicht worden war. Später folgte „Wenn alles still auf Erden“, das mit dem „Nocturne“ Nummer 3 einen ebenso interessanten wie musikalisch anregenden Abend beschloss.
1794 in der Oberlausitz geboren
Eröffnet hatte ihn Otto Democh mit dem Verweis auf die 1931 von Friedrich Hoppe veröffentlichte „Chronik für die Claudiusliedertafel“. Sie enthalte zwar viele Daten und Fakten, weise aber aus seiner Sicht auch etliche Ungenauigkeiten und Fehldeutungen auf. Deshalb sei es notwendig gewesen, in Archiven nachzufragen, weitere Quellen zu suchen und zu sichten sowie im Briefwechsel verschiedenen Details nachzugehen. Hilfreich sei dabei Susanne Kröner als Leiterin des Naumburger Stadtarchivs gewesen, die zahlreiche Hinweise gab und Quellen bereitstellte. Einige der gesammelten Dokumente zum Leben und Schaffen von Claudius stellte Democh als Präsentation vor, darunter auch Bilder wie jenes ovale, das den Künstler in den 1840er-Jahren zeigt.
Geboren wird Claudius am 6. Dezember 1794 in Sohland in der Oberlausitz. Sein Vater, Ferdinand Claudius, ist Geleitsinspektor oder - wie es damals hieß - Generalacciseeinnehmer. Die Heirat der Eltern am 11. September 1794, so schlussfolgerte Democh, sei wohl eine Notheirat gewesen, zeichnet sich doch die Geburt eines Kindes bereits mehr als deutlich ab. Insgesamt gehen aus der Ehe neun Kinder hervor. Als der Vater nach Kamenz versetzt wird und die Familie dorthin umzieht, bleibt Otto Carl bei den Großeltern. „Und so stimmt es eben nicht, dass er die frühen musikalischen Anregungen von seiner Mutter erhalten hat, sondern sicherlich von der Großmutter“, sagte Democh. Mit der Aufnahme ins Görlitzer Gymnasium wird dieses musikalische Talent gefördert: „Man staunt über sein pianistisches Können, er wird in den Chor aufgenommen.“ Korrigiert werden müsse, so Democh weiter, auch die Aussage, Claudius habe in Leipzig Jura studiert. Denn seine Nachforschungen hätten ergeben, dass der Name Claudius im Matrikel nicht auftaucht. Als die Eltern 1816 kurz hintereinander sterben, nimmt er eine Anstellung als Gesangslehrer an einer Stadtschule in Zittau an. Um sich zusätzliches Geld zu verdienen, gibt er Privatunterricht und lernt dabei seine erste Ehefrau kennen. Sie ist sechs Jahre älter. Nur kurze Zeit nach seiner Geburt stirbt der Sohn Arthur.
Doch die Ehe ist nicht glücklich - und auch musikalisch merkt Claudius: „Ich brauche eine fundierte Ausbildung“, wie Democh dessen Wechsel nach Leipzig bewertet. Da die Frau in Zittau bleiben will, geht er allein, reicht die Scheidung ein. Ein Stammbuchblatt, das Claudius 1825 - einen Tag vor seinem Weggang - seiner Noch-Ehefrau schreibt, offenbart, dass ihm der Schritt nicht leichtfällt.
Doch die Musikstadt Leipzig lockt. Erst im zweiten Anlauf nach Erhalt einer Bürgschaft kann er sich dort niederlassen. Er erhält Unterricht im doppelten Kontrapunkt, so vom Thomaskantor Christian Theodor Weinlig (1780-1842). Überaus lobend aufgenommen werden die Ouvertüre und die Einleitung zu seiner Oper„Arion“, die im Februar 1827 zusammen mit Werken von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) aufgeführt werden. Ein schöner Start, so scheint es, zumal weitere Kompositionen in der Thomaskirche zu hören sind und bei Verlagen gedruckt werden. Dennoch entschließt sich Claudius 1829, sich in Naumburg um die Stelle als Kantor zu bewerben. Democh vermutet, es seien wohl finanzielle Gründe gewesen. 14 Bewerber gibt es, übrig bleiben noch drei, schließlich erhält Claudius die mit 300 Talern hälftig von der Stadt und vom Dom bezahlte Stelle. Wohnung nimmt er in der Seilergasse 15, dem heutigen Hotel „Stadt Aachen“. Nach der Hochzeit mit seiner zweiten Frau, die er in Leipzig kennengelernt hat und die ihm erst ein Jahr später nach Naumburg folgt, stürzt sich Claudius in die Arbeit.
Er leitet die sonntäglichen Konzerte abwechselnd in Dom und Wenzelskirche, gibt Privatunterricht, komponiert. 1840 wird ihm der Titel „Königlicher Musikdirektor“ verliehen. Bezeichnend für diese Zeit, so hat Democh herausgefunden, sind die häufigen Wohnungswechsel innerhalb der Stadt. „Es mag wohl an der zunehmenden Verschlechterung der Gesundheit seiner Frau gelegen haben, dass sie mehrfach umzogen.“ Bezüglich seiner Oper „Der Gang zum Eisenhammer“ schreibt Claudius am 29. Juli 1845 an Richard Wagner (1813-1883). Er will dessen Rat einholen. Als Claudius bereits in der Neustraße 7 wohnt, besuchen ihn Wagner und dessen Frau Cosima, spielen auf Claudius’ Flügel. „Ob dieser Flügel vielleicht noch irgendwo in Naumburg steht“, fragte Democh mit einem Raunen in der Stimme. 1846 wird er Dirigent der neu entstandenen „Claudiusliedertafel“, ein Jahr später „Bundesdirigent“ des „Sängerbundes an der Saale“.
Damit ist er für den sakralen Teil der Aufführungen während der großen Sängerfeste in Naumburg mit 600 Sängern in der Wenzelskirche und in Merseburg verantwortlich. Er schreibt Kammermusik, sein „Paulus“-Oratorium wird aufgeführt. Nochmals hofft der Musiker auf den großen Sprung nach Leipzig, wo sein nach einem Schiller-Text entstandes Werk „Die Glocke“ erfolgreich über die Bühne geht. Doch die Arbeit drückt ihn nieder, zumal die Zustände am Domgymnasium offenbar nicht gerade rosig sind.
Hinzu kommt: Seine Frau ist krank und muss gepflegt werden. Claudius nimmt sich mit der 1815 in Bad Kösen geborenen Amalia Franke eine Haushälterin. Später wird daraus mehr, ein Kind kommt zur Welt. Dieser unehelich geborene Junge, so scheint es, mag wohl auch dazu geführt haben, dass Claudius womöglich in der Naumburger Öffentlichkeit abschätzig aufgenommen wird. Denn nach dem Tod seiner Frau, da ist der Junge bereits 15 Jahre alt, wird der Sohn von Claudius adoptiert.
Denkmal erst zwei Jahre nach Tod
1865 geht der Kantor in den Ruhestand. Die „Eisenhammer“-Oper ist umgearbeitet und fertig, doch noch nicht aufgeführt. Es wird still um Claudius. Seinen 80. Geburtstag verbringt er von der Öffentlichkeit kaum beachtet in der Neustraße 14, wo er inzwischen wohnt. Am 3. August 1877 stirbt Claudius. Otto Democh: „Dom und Stadtmagistrat nehmen das Ereignis kaum zur Kenntnis, im Kreisblatt erscheint eine knappe Mitteilung. Auch die Liedertafel interessiert sich nicht für Claudius’ Begräbnis.“
Erst 1878 ist es der Chorsänger Hugo Leine, der ein Denkmal anregt. Am „Schwarzen Roß“ soll es aufgestellt werden. Dann entscheidet man sich für den Bürgergarten, wo es am 21. September 1879 feierlich enthüllt wird. Otto Demochs Fazit: „Claudius hat versucht, das Naumburger Konzertleben auf eine neue Stufe zu stellen. Es ist ihm jedoch als Komponisten nicht gelungen, einen unverwechselbaren, individuellen Stil zu erreichen. Zunächst wurde er gelobt, aber dann ist es in der Enge der Kantorenstelle und der Enge dieser kleinen Stadt für ihn immer schwieriger geworden.“