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Dorfreport aus Thierschneck  Dorfreport aus Thierschneck : Cowboy trifft Sputnik

Von Andreas Löffler 16.02.2020, 11:16
Gruppenbild mit Akteuren aus dem Ort (v. l.): Tina Heller, Sascha Gänß, Carla Meierl, Sabine Wefers, Gerda Voigt, Edgar „Sputnik“ Hüttig, Edith Vater, Klaus-Peter Wefers und Jürgen „Cowboy“ Reichert. Ländliches Idyll (rechts).
Gruppenbild mit Akteuren aus dem Ort (v. l.): Tina Heller, Sascha Gänß, Carla Meierl, Sabine Wefers, Gerda Voigt, Edgar „Sputnik“ Hüttig, Edith Vater, Klaus-Peter Wefers und Jürgen „Cowboy“ Reichert. Ländliches Idyll (rechts). Löffler

Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Als krasser Außenseiter hatte sich der 105-Seelen-Ort Thierschneck, am nordöstlichen Zipfel Thüringens und gerade einmal 20 Autominuten von Naumburg entfernt gelegen, in einer Publikumsabstimmung den letzten freien Gastgeber-Platz im Rahmen der MDR-Jump-Weihnachtsmarkttour 2019 gesichert. Sage und schreibe 4.500 Gäste - gerechnet worden war mit 1.000 bis 1.500 Besuchern - strömten am 21. Dezember vorigen Jahres in die zur Verwaltungsgemeinschaft Dornburg-Camburg gehörende Gemeinde im Saale-Holzland-Kreis und feierten dort mit angesagten Stars wie Philipp Dittberner, Millé und Jessica Wahls.

Grund genug also, für unseren Dorfreport im Burgenlandjournal ausnahmsweise einmal wieder das angestammte Tageblatt-Verbreitungsgebiet zu verlassen und „drüben“ bei unseren Thüringer Nachbarn der Frage nachzugehen: Was macht den ganz besonderen Reiz von Thierschneck aus?

„Wenn wir Thierschnecker eine Gelegenheit zum Feiern erspähen - dann feiern wir!“, führt Sascha Gänß, der Vorsitzende des Heimatvereins, der hier Lindenverein heißt und stolze 40 der 105 Einwohner zu seinen Mitglieder zählt, die durchweg gute Laune im Ort als wichtigsten Punkt an. „Unser Feierkalender schlägt alles. Und bei den bestimmt zehn, zwölf großen Sausen pro Jahr sind die ’inoffiziellen’ wie Silberhochzeiten oder Jugendweihen, die oft ebenfalls quasi vom ganzen Dorf begangen werden, noch gar nicht mitgerechnet“, betont der 39-Jährige. „Wir bräuchten eigentlich noch fünf Wochen mehr im Jahr, damit sich die Partys nicht allzu sehr ballen“, sagt er vergnügt.

Die prima Stimmung gehe dabei mit einem ausgeprägten Gemeinschaftsgefühl einher. „Unser Event im Rahmen der MDR-Weihnachtsmarkttour liefert dafür ein gutes Beispiel: Selbst diejenigen, die dem zu erwartenden Andrang und Trubel eher reserviert gegenüberstanden, haben bei der Vorbereitung der Aktion tatkräftig mit angepackt“, schildert Carla Meierl, die seit nunmehr schon gut einem Vierteljahrhundert ehrenamtliche Bürgermeisterin ist. „Wir haben hier ja kein Kulturdezernat, das sich darum kümmert, sondern eben selbst eine improvisierte Infrastruktur aus dem Boden gestampft und sogar die Stromversorgung aufgemotzt, damit sich Künstler sowie Veranstaltungsgäste bei uns wohlfühlen und alles reibungslos über die Bühne geht“, hebt die 56-Jährige hervor.

Kaum war die MDR-Karawane abgezogen und Weihnachten vorbei, trafen sich am letzten Tag des vorigen Jahres ganze 70 Dorfbewohner, sprich zwei Drittel des Ortes, im Saal des Dorfgemeinschaftshauses „Zur Ausspanne“ zur kollektiven Silvesterfeier. „Wir brauchen keinen Babysitter und kein Auto, das uns abholt, und haben ein Büfett, zu dem jeder etwas beiträgt und das sich auf diese Weise in seiner Fülle absolut sehen lassen kann“, benennt die 42-jährige Tina Heller einleuchtende Gründe. Der doppelt so alte Edgar Hüttig, der aus seinem Arbeitsleben den kuriosen Spitznamen „Sputnik“ zurückbehalten hat („Ich war dreimal Aktivist.“), weist zudem auf den enormen Unterhaltungswert der Silvesterfeten in Thierschneck hin. „Das ist immer eine Riesengaudi - mit ganz klarer Arbeitsteilung in Sachen ’Kulturprogramm’ übrigens: In den geraden Jahren sind die Frauen, in den ungeraden Jahren die Männer dafür verantwortlich. Bis zur Bühnenpremiere am Silvesterabend wird stets eine tüchtige Geheimniskrämerei drumherum betrieben“, erläutert er.

Diesmal tanzten die Herren der Schöpfung im Tutu, also in den sonst von Balletttänzerinnen getragenen kurzen Tüll-Röckchen und präsentierten bei freiem Oberkörper gleichzeitig eine stattliche „Bauchparade“. Den Vogel schoss Jürgen Reichert ab. Der 69-Jährige habe sich „in High Heels gekonnter bewegt als manch anderer in Turnschuhen“, frotzelt Edgar „Sputnik“ Hüttig liebevoll. Gut möglich, dass die an den Tag gelegte Eleganz schlicht auf jahreslanges Training zurückgeht, ist Jürgen Reichert, den alle im Ort nur „Cowboy“ nennen, doch auch oft in den typischen Westernstiefeln mit hohem Absatz unterwegs. Die Scheune seines Grundstücks hat er zu „Cowboy’s Country Halle“ umgebaut - stilecht ausstaffiert mit Indianerplastiken, ausgestopftem Bison-Kopf und Winchester-Büchse an den Wänden.

Beim Cowboy von Thierschneck steigt jeweils am Wochenende nach Pfingsten ein großes Country-Fest, das wegen seines Termins auch „Klein-Pfingsten“ genannt wird und bei dem unter anderem Reicherts Pferd „Rambo“ und seine Nandus bestaunt werden können. „Cowboy“ ist alljährlich auch Gastgeber eines „Russischen Abends“ - geopolitisch sozusagen der denkbar größte Kontrast zu Nordamerikas Prärien, freilich dank eines Akkordeon spielenden Sängers aus Gera, der einst sogar den berühmten „Donkosaken“ angehört haben soll, stets sehr stimmungsvoll und herzwärmend. Streng genommen geht sogar die spontane Gründung des Dorfchores im vorigen Herbst auf „Cowboys“ Konto.

"Wir saßen bei Cowboys Geburtstagsfeier am Vorabend von Halloween in der Scheune zusammen und hatten noch keine Musik. Also haben wir Frauen spontan das DDR-Kinderlied ’Wenn Mutti früh zur Arbeit geht’ angestimmt und uns dann richtiggehend ins Singen reingesteigert“, berichtet Carla Meierl lachend von der skurrilen Geburt des Gesangsensembles, das sich zwar den augenzwinkernden Namen „Schnapsdrosseln“ verpasst hat, aber seither ganz ernsthaft vom Dorforganisten Jörg Weber angeleitet wird. „Ich bin in meinem Leben ganz schön herumgekommen, aber einen solchen Zusammenhalt wie hier habe ich nirgendwo anders erlebt“, unterstreicht Jürgen „Cowboy“ Reichert mit Nachdruck. Vor 19 Jahren ist er aus Naumburg - des Freiraums und der Tiere wegen - nach Thierschneck gezogen, in der Domstadt aber nach wie vor Mitglied der altehrwürdigen Stadtwache.

Überhaupt geht der Blick der Thierschnecker eher in Richtung Naumburg als nach Jena, beispielsweise beim Thema Einkäufe und namentlich in Sachen Kultur. „Ein Ausflug ins Kino lässt sich mit Anfahrt und Parkerei in Naumburg deutlich unkomplizierter bewerkstelligen als in Jena“, findet Sabine Wefers. Gemeinsam mit ihrem Mann Klaus-Peter ist die heute 62-Jährige, die bis 2018 Leitende Direktorin der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena war, 1999 aus Hessen in die Region gekommen. In Thierschneck, genauer in einem Vierseitenhof am Ortsrand, der seinerzeit teils schon fast dem Einsturz nahe war und den sie über mehrere Jahre der Sanierung in ein Schmuckstück sondergleichen zurückverwandelten, haben die Wefers nicht nur ihr Domizil gefunden, sondern wahrlich eine neue Heimat. „Hier wohnt man nicht einfach - hier lebt man“, findet Sabine Wefers eine plastische Formulierung. „Die Einheimischen haben uns das ’Andocken’ leicht gemacht: Wer in Thierschneck mittun und zur Gemeinschaft dazugehören will, ist herzlich willkommen“, so Klaus-Peter Wefers. Längst hat sich das Paar vom Feier-Fieber im Ort anstecken lassen, kann zudem mit selbst hergestellten, köstlichen Likören punkten. „Unsere Silberhochzeit wollten wir gar nicht weiter hoch hängen, haben letztlich aber praktisch mit dem ganzen Dorf gefeiert“, berichtet der 64-Jährige schmunzelnd. Dass eine 500-Jahr-Feier, wie sie 2013 begangen wurde, nicht zwangsläufig etwas mit der Ortshistorie zu tun haben muss, sondern die kollektive Party von zehn 50er-Jubilaren sein kann, wisse er jetzt auch.

Blick auf die Dorfkirche St. Nikolaus und die Friedenslinde, die nach der Brandschatzung des Ortes 1763 gepflanzt wurde und seit 1963 den Anlass für das alljährliche Lindenfest am ersten Juli-Wochenende liefert.
Blick auf die Dorfkirche St. Nikolaus und die Friedenslinde, die nach der Brandschatzung des Ortes 1763 gepflanzt wurde und seit 1963 den Anlass für das alljährliche Lindenfest am ersten Juli-Wochenende liefert.
Löffler
Jürgen Reichert ist der Cowboy von Thierschneck und in seiner stilecht ausstaffierten Scheune regelmäßig Gastgeber legendärer Partys.
Jürgen Reichert ist der Cowboy von Thierschneck und in seiner stilecht ausstaffierten Scheune regelmäßig Gastgeber legendärer Partys.
Löffler
Sabine und Klaus-Peter Wefers, die 1999 aus Hessen kamen, haben einen teils fast kurz vor dem Einsturz stehenden Vierseitenhof liebevoll restauriert.
Sabine und Klaus-Peter Wefers, die 1999 aus Hessen kamen, haben einen teils fast kurz vor dem Einsturz stehenden Vierseitenhof liebevoll restauriert.
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