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Besteht ein Zusammenhang? Besteht ein Zusammenhang?: Mann bei Überfall schwer verletzt - dann stirbt sein Vater

Von Alexander Schierholz 20.01.2019, 20:51
Der 28. September 2018 beschäftigt ihn bis heute: Klaus-Peter Krümmling
Der 28. September 2018 beschäftigt ihn bis heute: Klaus-Peter Krümmling Andreas Stedtler

Naumburg - Die Erinnerung an seine Eltern trägt Klaus-Peter Krümmling immer bei sich. Auf den rechten Unterarm hat er sich ein Kreuz tätowieren lassen mit den Namen von Mutter und Vater, den Geburts- und Sterbedaten. Auf dem linken Arm prangen zwei Rosen und ein Zifferblatt mit vier Zeigern - für die Sterbezeit. Um 5.55 Uhr ist die Mutter gestorben, an einem Tag im Juli 2018. Wenige Monate später, an einem Novembertag um 7.11 Uhr, der Vater.

Der Vater, von dem der 59-jährige Klaus-Peter Krümmling oft denkt, er könnte noch leben. Wenn da diese Geschichte auf dem Supermarktparkplatz nicht gewesen wäre.

28. September 2018, ein Freitagabend. Krümmling will noch schnell zum Rewe in Naumburg fahren, ein Fahrtenbuch kaufen. Er parkt seinen beigefarbenen Mazda, steigt aus, betritt den Markt. Fünf Minuten später kommt er wieder raus, ohne Fahrtenbuch. Egal, ab nach Hause. Dort wartet sein pflegebedürftiger Vater. Krümmling, seit fünf Jahren Frührentner wegen einer kaputten Wirbelsäule, kümmert sich um den alten Herrn.

Angriff in Naumburg: „Ich stech’ dich ab!“

Er steigt also wieder in seinen Mazda, startet den Motor. Da sieht er, wie drei Jugendliche auf sein Auto zukommen, vielleicht 15, 16 Jahre alt. Krümmling hat sie nie zuvor gesehen. Einer zeigt den Hitlergruß, ein anderer spuckt in Richtung Wagen und zeigt ihm den ausgestreckten Mittelfinger, so schildert er es heute. Er stellt den Motor wieder ab und steigt aus. „Ich wollte die zur Rede stellen“, sagt er. Das Trio hat sich mittlerweile in Richtung der Anlieferzone entfernt. Krümmling geht hinterher. Als er die Gruppe erreicht, brüllt ihn einer der Jugendlichen an: „Ich stech dich ab!“ und versetzt ihm einen Schlag in den Bauch. Der Junge fuchtelt mit etwas herum. Vielleicht ein Messer, vielleicht ein angespitzter Schraubenzieher. Genau lässt sich das nicht erkennen, es ist dunkel mittlerweile. Krümmling sieht die Waffe, er denkt an seinen Vater, wendet sich zum Gehen und steigt ins Auto. Erst dort merkt er, dass der vermeintliche Schlag in den Bauch ein Stich war: „Alles war nass und voller Blut.“

Klaus-Peter Krümmling fährt nach Hause, nur ein paar Minuten mit dem Auto. Er ruft den Krankenwagen und die Polizei.

Wenig später wird nicht nur er ins Krankenhaus eingeliefert, sondern auch sein Vater. Seine beiden Schwestern, die in der Nähe wohnen, sind noch berufstätig. Sie können den alten Herrn nicht betreuen, also muss er mit. Der Sohn muss operiert werden, doch er hat Glück: Es sind keine inneren Organe verletzt.

Vor dem Klinikaufenthalt habe sich sein Vater wenigstens zu Hause noch an Krücken fortbewegen können, schildert Krümmling. Im Krankenhaus aber habe man ihn stets in einen Rollstuhl gesetzt. Als Vater und Sohn nach mehr als zwei Wochen entlassen werden, kann der Vater sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er wird bettlägerig. Krümmling bestellt einen Pflegedienst und packt selbst mit an. Doch der Vater liegt sich wund und zieht sich eine Entzündung zu. Schließlich wird er wieder in die Klinik eingeliefert. Dort stellen die Ärzte Nierenversagen fest, später eine Lungenentzündung. Wenige Tage später stirbt der alte Herr, mit 84 Jahren. „Das war alles zu viel“, sagt sein Sohn, „der Kreislauf hat es nicht mehr geschafft.“

Klaus-Peter Krümmling ist ein Baum von einem Mann. 2,02 Meter groß, stämmig, muskulöse Arme. Einer, dem man zutraut, dass er sich wehren kann. Vielleicht ist er deshalb an jenem 28. September abends auf dem Supermarkt-Parkplatz noch einmal aus dem Auto gestiegen, um die Jugendlichen zur Rede zu stellen.

Angriff in Naumburg: Opfer macht sich Vorwürfe

Heute hadert er damit. „Ich mache mir Vorwürfe“, sagt er. „Wäre ich damals im Auto geblieben, wäre das alles nicht passiert.“ Die Jugendlichen hätten ihn nicht angegriffen. Er hätte nicht ins Krankenhaus gemusst. Sein Vater auch nicht. „Mein Vater könnte noch leben.“

Die Pöbeleien der Jugendlichen. Der Angriff. Der Aufenthalt von Vater und Sohn im Krankenhaus. Die Infektion des Vaters zu Hause. Es ist eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen. Der Überfall scheint mit dem Tod des Vaters nichts zu tun zu haben. Und doch hängen beide zusammen. Es ist ein Beispiel dafür, wie schnell alles aus den Fugen geraten kann.

Der Abend, die Frage, was wäre, wenn er nicht noch einmal ausgestiegen wäre - sie beschäftigen Klaus-Peter Krümmling bis heute. Wie es ihm geht? „Die körperliche Wunde ist verheilt“, sagt er, „aber die seelische noch nicht.“ Manchmal schweigt er lange, als könne er das alles nicht fassen. Krümmling ist nicht der Typ, der darüber viele Worte verliert. Obwohl es ja helfen kann, sich eine Last von der Seele zu reden. Doch Krümmling sieht es so: „Reden mag für den Moment helfen, aber es ändert doch nichts an der Tatsache, dass Vati gehen musste.“

Er spricht oft von „Vati“ und „Mutti“. Im Wohnzimmer hat er unzählige Fotos von beiden aufgehängt, hinter Glas. Dazu Bilder seiner Tochter, seiner Geschwistern, seiner Nichten und Neffen und seiner vier Enkel. „Vati hat seinen vierten Urenkel noch kennengelernt“, erzählt er mit leiser Stimme. Im September ist das kleine Mädchen geboren worden.

Wie sollte man sich verhalten, wenn man selbst in eine bedrohliche Situation gerät? „Jeder Fall ist anders“, sagt Jörg Bethmann, Landessprecher Sachsen-Anhalt der Opferhilfsorganisation Weißer Ring. Generell gelte aber: Man solle nach Möglichkeit ruhig bleiben, sich nicht provozieren lassen und „Öffentlichkeit herstellen“, so Bethmann. Das heißt: laut um Hilfe rufen oder sogar Umstehende gezielt ansprechen, etwa: „Sie mit dem roten Basecap, rufen Sie bitte die Polizei!“

Wer um Hilfe gebeten wird, sollte die Polizei unter der Notrufnummer 110 verständigen. Was ist noch möglich? Man könne den Täter gezielt auffordern, von seinem Opfer abzulassen, so Bethmann, etwa mit lauten Rufen: „Lassen Sie das sein!“ Auch das Opfer könne angesprochen und damit Hilfe signalisiert werden: „Kommen Sie zu mir!“ Darüber hinaus sollten Helfer aber nicht eingreifen, rät Bethmann. „Wichtig ist es, den Notruf abzusetzen. Es geht nicht darum, den Helden zu spielen.“

››Bundesweites Opfer-Telefon des Weißen Rings: 116 006 (gebührenfrei)

Etwas versteckt in einer Zimmerecke hängt ein schlichter Jesus am Kreuz. Klaus-Peter Krümmling ist katholisch. Findet er Trost im Glauben? Er zögert, dann sagt er: „Ohne wäre ich vielleicht längst mit dem Auto irgendwo gegen gefahren.“

Krümmling zeigt noch eine Tätowierung auf dem rechten Unterarm. Neben dem Kreuz zum Gedenken an seine Eltern prangt der Schriftzug „Westfalenstadion“. Das Tattoo ist schon älter, er ist Dortmund-Fan. Fußball ist seine große Liebe. Lange hat er für Naumburg 05 den Nachwuchs trainiert, bis die Wirbelsäule nicht mehr mitmachte. Jetzt engagiert er sich als Staffelleiter Fußball im Burgenlandkreis, für die Männer und den Nachwuchs.

Weil Krümmling auch Sportberichte schreibt für das Naumburger Tageblatt, die Lokalausgabe der MZ, und weil einer der Jugendlichen den Hitlergruß zeigte, machte die Nachricht von dem Überfall schnell bundesweit die Runde. Tenor: Journalist von Rechtsextremen niedergestochen. Dabei ist Krümmling kein Journalist, sondern gelernter Kellner. Nach der politischen Wende hat er beim Forst gearbeitet, auf dem Bau und in einem Betrieb für Bohrtechnik. Er hat sich mit 46 zum Bürokaufmann umschulen lassen und ein paar Jahre Hartz IV bezogen. „Das war demütigend ohne Ende“, sagt er heute über diese Zeit.

Der jüngste Verdächtige ist 13

Krümmling war wohl einfach zur falschen Zeit am falschen Ort an jenem 28. September 2018. Wäre nicht gerade er in seinen Mazda gestiegen, sondern jemand anders in ein anderes Auto, dann hätten die Jugendlichen vielleicht diesen anderen angepöbelt. Es hätte jeden treffen können.

Die Polizei hat die mutmaßlichen Täter mittlerweile ermittelt. Sie sind 13, 15 und 16 Jahre alt. Hinweise auf einen politischen Hintergrund gebe es bisher nicht, sagt eine Polizeisprecherin.

Klaus-Peter Krümmling wartet nun darauf, dass der Fall vor Gericht kommt. „Meinen Vater wird mir das nicht wiederbringen“, sagt er. „Aber es kann ja nicht sein, dass hier jeder machen kann was er will.“ (mz)