Ausschreitungen in Quedlinburg Ausschreitungen in Quedlinburg: Schatten der Vergangenheit
Quedlinburg/MZ. - Es ist dieses Foto: Ein Mann liegt am Boden, Helfer und Fotografen drängen sich um ihn. Das Bild, in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten, erinnert fatal an jenes vom sterbenden Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967. Der Mann auf dem Bild aus dem September 1992 ist Gott sei Dank nur bewusstlos, getroffen von einem Stein am Kopf. Doch das Bild wird wie das von Ohnesorg zum Symbol. Zum Symbol für eine Woche ausländerfeindlicher Krawalle in Quedlinburg, die die Stadt am Randes des Harzes bis heute prägen.
Hans Jaekel, zu Wendezeiten Leiter des evangelischen Jugendzentrums in der Stadt, treibt es beim Anblick des Fotos noch heute die Zornesröte ins Gesicht, seine Stimme grollt: "Die Polizei stand daneben und hat uns nicht geschützt." Nur mühsam gelingt es Jaekel und etwa 60 Gleichgesinnten, sich an diesem Abend vor Steinen zu schützen. Sie haben sich Jacken um die Arme gewickelt und halten sie zum Schutz über ihre Köpfe. Es ist Mittwoch, der 9. September 1992, als die Lage in Quedlinburg vollends eskaliert.
Zwei Tage zuvor hat alles angefangen. Wie, wusste damals und weiß bis heute so recht keiner. Quedlinburg liegt zwischen den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen und den tödlichen Anschlägen auf Ausländer in Solingen und Mölln. "Ich hatte einen Anruf, dass was im Gange ist", erinnert sich der damalige Bürgermeister Rudolf Röhricht (parteilos). Mit seiner Sozialdezernentin Birgit Voigt (SPD) steht er als einer der ersten am Heim. Die Meldekette funktioniert trotz der noch spärlichen Telefone. Jaekel hört es auch rumoren, er mobilisiert jene, die noch das Band der politischen Wende verbindet: Christen, Bürgerrechtler, Kommunalpolitiker, linke Autonome.
Viele Jugoslawien-Flüchtlinge
In Quedlinburg gibt es zwei Heime für Asylbewerber, meist Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Doch das wissen nur die wenigsten der rund 20 000 Einwohner. Und während die Menschen in einem der heruntergekommenen Häuser im Zentrum unbehelligt bleiben, konzentrieren sich die Auseinandersetzungen in den kommenden Nächten vor jenem Gebäude, das direkt an einer Durchgangsstraße liegt.
Sie trennt Fachwerk und Jugendstil-Villen von einem Neubau-Viertel aus DDR-Zeiten. Die Plattenbauten im Rücken, marschieren hier am Montag die ersten Randalierer auf. Steine fliegen und Molotowcocktails. Es wird in Kauf genommen, dass das Heim in Brand gerät wie das Sonnenblumen-Haus in Rostock. "Das waren Nazis", erinnert sich Katrin Hund aus der autonomen Szene der Stadt. Jaekel teilt dies nicht: "Das waren keine Nazis, das waren Rassisten." Gegen alles, was anders war. Vor allem Jugendliche, von denen Jaekel viele kannte. Kinder aus Familien, denen drei Jahre nach der friedlichen Revolution die Perspektive abhandengekommen war. Fast alle Großbetriebe im Kreis hatten Tausende entlassen, die Arbeitslosenquote in der damaligen Kreisstadt lag bei über 30 Prozent.
"Die Nazis kamen erst zwei Jahre später", sagt auch Eberhard Brecht (SPD), damals Bundestagsabgeordneter und heute Oberbürgermeister der Stadt. Vis á vis von Brechts Haus lässt sich der spätere NPD-Landeschef Steffen Hupka nieder und macht aus einer Jugendstilvilla ein braunes Schulungszentrum.
Dennoch scheinen auch die Krawalle in Quedlinburg nicht spontan begonnen zu haben: "Da waren ständig größere Limousinen unterwegs, aus denen Anweisungen erteilt wurden", erinnert sich der damalige MZ-Volontär und heutige Reporter des Radiosenders MDR 1, Matthias Gold. Es waren Fahrzeuge aus Quedlinburg, aber auch aus Berlin und Braunschweig. Im Mittelpunkt der Aufstachler aus Quedlinburg standen ein Unternehmer, der später den Kreisverband der Republikaner gründete, und der Sohn eines Bauunternehmers.
Gold war der erste Journalist, der bereits am ersten Abend dabei war. Der beobachtete, wie zunächst nur 50, 60 Jugendliche das Heim in der Oeringer Straße belagerten und später vor allem diejenigen attackierten, die sich schützend vor dem Heim aufgestellt hatten. Die Teilnehmerzahlen auf beiden Seiten wuchsen an den nächsten Abenden - aber höchst ungleichmäßig. Trotz eines Flugblatt-Aufrufes der Heim-Beschützer kamen nur gut 60 bis 80 Quedlinburger, um sich vor ihre ausländischen Mitbürger zu stellen. Auf der anderen Seite wuchs die Zahl der Randalierer und Schaulustigen immer stärker an. Zu den Jugendlichen gesellen sich deren Eltern, vor allem aber, erinnert sich Jaekel, "waren es Leute aus der Großeltern-Generation, die applaudiert haben". Jaekel ist geschockt von der Pogromstimmung, die von dem Mob ausgeht: "Ich fühlte mich an die Berichte meiner Mutter aus der Nazizeit erinnert." Und: "Das war der Niedergang der Wendebewegung, das Volk hat seine Freiheit missbraucht."
Journalist Gold beschreibt die Szene als "düster im doppelten Sinn"; die dunkle Straße und die Masse der Angreifer. "Furchtbar", sei es gewesen, "und entsetzlich hilflos", beschreibt Katrin Hund die Szenerie. Angst vor der Tür, Angst im Heim: "Die Frauen und Kinder haben geschrien und geweint", sagt Hund, die damals 21 war. Zwischen den Steinwürfen versucht Röhricht zu vermitteln, muss aber feststellen, dass er kein Gehör findet. Röhricht, vor der Wende Lehrer und daher stadtbekannt, wird angepöbelt.
So weit viele Erinnerungen auch auseinanderliegen - an zwei Punkten unterscheiden sie sich nicht: Neben der Masse der Applaudierenden ist es das Versagen der Polizei. Am dritten Abend der Krawalle schickt Innenminister Hartmut Perschau (CDU) zwar Bereitschaftspolizei nach Quedlinburg. Doch die hält sich zurück, erinnern sich Jaekel, Hund, Brecht, Gold und Röhricht. "Die hatten von Tuten und Blasen keine Ahnung und haben die Hinweise ihrer Quedlinburger Kollegen ignoriert", so Röhricht. "Die waren weder technisch noch taktisch angemessen ausgestattet", sagt Gold. Schlimmer noch: Die Polizei schreitet nicht ein, als Steine auf die Mahnwache prasseln, es Verletzte gibt.
Es ist der Moment, in dem Hans Jaekel die Beherrschung verliert und den Einsatzleiter anbrüllt. Der verteidigt sich und wirft der Mahnwache vor, sich "mutwillig" in Gefahr begeben zu haben. Innenminister Perschau stellt sich hinter seinen Einsatzleiter und redet die Gefahren klein. Im Landtag hagelt es Rücktrittsforderungen. Perschau tritt zurück - allerdings erst ein Jahr später wegen einer Gehälteraffäre. In Quedlinburg weist Perschau eine Woche nach Beginn der Krawalle an, die Asylbewerber in Sicherheit zu bringen. "In einer Nacht- und Nebelaktion", sagt Röhricht und kritisiert die Entscheidung: "So wurde den Randalierern indirekt Recht gegeben."
Häufige Straßenschlachten
Ein Jahr nach den Auseinandersetzungen erhält Quedlinburg seinen Domschatz zurück; ein weiteres Jahr darauf wird die Fachwerkstadt als erste im Osten Deutschlands in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Doch in fast jedem Bericht werden auch die ausländerfeindlichen Krawalle erwähnt. Quedlinburg gilt jahrelang als Neonazi-Hochburg im Osten. Bereits eine Woche nach den Krawallen bricht das fragile Bündnis zwischen Bürgerlichen und Antifa - als gewaltbereite Autonome in einer Demo durch die Stadt ziehen. In den Jahren darauf kommt es immer wieder zu Übergriffen und vereinzelten Straßenschlachten zwischen rechten und linken Jugendlichen.
Die Zeiten seien Gott sei Dank vorbei, sagt Brecht. Dass sich die Lage in der Stadt beruhigt und die organisierten Neonazis wieder abgewandert sind, führt er auch auf den von ihm seit Jahren geleiteten "Runden Tisch für Demokratie" zurück, an dem zahlreiche Akteure der Stadt regelmäßig Veranstaltungen organisieren. Auch die zum "traurigen Jubiläum" im September, so Brecht: "Wir gehen offensiv damit um." Wohlwissend, dass die Ruhe trügerisch sein kann. Im Kreistag sitzen zwei der führenden Neonazis des Landes.