17. Juni 17. Juni: Donnerbüchse ins Gestern
Berlin/Bitterfeld/MZ. - Es ist ein Rütteln in der Holzklasse. Wenn die "Donnerbüchse" eine Weiche passiert, scheint es die Räder aus den Geleisen heben zu wollen. Von Berlin bis Bitterfeld ist es eine lange Fahrt mit dem Nostalgie-Zug der Deutschen Bahn, eine lange Fahrt, die mitten hinein ins Gestern führt.
Zurück in eine Zeit, als Bahnhofsuhren noch Sekundenzeiger hatten. Eine Zeit, als Deutschland vom Westen aus gesehen hinter dem Wannsee zu Ende war. Und von Osten aus betrachtet kurz vor Potsdam neu anfing als ein anderes Land. Rita Teichmann war damals schon auf denselben Geleisen unterwegs, gezogen vermutlich von haargenau derselben Lok, wie Bitterfelds Museumschef Uwe Holz der Ruheständlerin verrät: "Die ist ja in den 50er Jahren schon hier gelaufen". Und Rita Teichmann fuhr seinerzeit jede Woche: "Wir wohnten in Berlin, ich habe aber immer noch in Leipzig gearbeitet", erzählt die Chemikerin. In Leipzig erleben sie und ihr Mann Herbert auch den 17. Juni 1953: "Ich war auf der Straße." Als die Teichmanns nun Iasen, dass da ein "Geschichts-Express" hinunter fährt nach Bitterfeld, "haben wir nicht lange überlegt."
Jetzt sitzen Teichmanns gleich neben einem Fernsehteam aus Berlin, einem australischen Journalisten und Schülern der Herder-Oberschule aus Charlottenburg. Die nutzen die Gelegenheit zur Klassenfahrt - ohne Euphorie, dafür mit umso mehr Neugier. "Ich werd' mich mal überraschen lassen", sagt Nils Schwenzfeier, den das ganz große Interesse an der deutschen Geschichte in Höhe Wolfen noch nicht gepackt hat.
Gerade junge Leute wie ihn aber will Paul Werner Wagner erreichen. "Ich bin damals als Fünfjähriger auf den Schultern meines Vaters dabei gewesen", sagt der Initiator von Ausstellung und Geschichts-Express. Entgegen allem, was in der DDR behauptet wurde, seien die Proteste friedlich gewesen. "Es gab keine Gewalt, es gab keine Plünderungen", weiß Wagner, der in Berlin lebt, sein Bitterfeld aber immer noch in Ehren hält.
Denn hier in Bitterfeld wurden nicht nur Forderungen nach Rücknahme der Normerhöhungen, sondern hochpolitische Forderungen laut. "Die Menschen wollten freie Wahlen und die deutsche Einheit." Die Provinz ganz vorn, die Kleinstadt als Fanal. Selbst als die russischen Panzer kamen, blieben die Aufständischen ruhig: "Das war eine Kapitulation der Klugheit."
Rita Teichmann erinnert sich genau an die Tage. "Meine Eltern hatten einen kleinen Laden", erzählt sie. Ihnen wurden vor dem 17. Juni 1953 die Lebensmittelkarten fortgenommen. "Wir hatten nur genug zu Essen, weil ich als Leistungssportlerin Marken extra bekam."
Es sind diese kleinen Details, die winzigen Begebenheiten am Rande der Weltgeschichte, die Udo Grashoff faszinieren. Seit zweieinhalb Jahren sucht der hallesche Historiker und Dichter in den Archiven nach der Wahrheit über den Volksaufstand, der im Osten zum "faschistischen Putschversuch" umgelogen und im Westen als Anlauf zur deutschen Einheit gefeiert wurde. "Zuerst wollte ich einfach wissen, wie die Geschichte mit der angeblichen KZ-Aufseherin Erna Dorn wirklich war", sagt Grashoff.
Von dort aus aber führte ihn die Spur immer tiefer auf die Schicksalsspur von Männern, die im Gefängnis gelandet, von Familien, die zerbrochen, von Frauen, die plötzlich allein waren. Jetzt steht Grashoff im eigens umgebauten Metall-Labor des Chemieparks Bitterfeld und spricht von Geschichte, die vergangen ist, ohne je vergehen zu können: Erst vor einigen Tagen hat der 37-Jährige mit einem der Männer gesprochen, die in Halle an der Spitze der Streiks standen. Wenig später erlitt der Mann einen Herzanfall, der zum Glück glimpflich ausging. "Was damals geschah, wühlt so in den Menschen, das lässt sie einfach nicht los."