11. April 1945 11. April 1945: SS ermordete bei Gardelegen über 1.000 KZ-Häftlinge
Gardelegen/MZ. - Eine Feldscheune bei Gardelegen wurde kurz vor Kriegsende zu einem Ort des Grauens. Am Mittwoch wird während einer Gedenkveranstaltung an das furchtbare Geschehen erinnert.
Als der Zug an jenem Nachmittag des 11. April 1945 auf dem kleinen Bahnhof Mieste stoppt, nehmen die Wachen von der SS-Baubrigade III die Beine in die Hand. Binnen einiger Augenblicke steht der Transport aus der KZ-Außenstelle Ilfeld unbewacht auf dem Gleis einen Kilometer vor Gardelegen. Mehr als 1.200 Häftlinge stecken seit sechs Tagen in den Waggons, ohne Essen und ohne zu wissen, was die SS mit ihnen vorhat. Weiter geht es von hier nicht mehr: "Gardelegen war seit einigen Stunden eingekesselt", beschreibt Herbert Becker, Chef der Gedenkstätte des Ortes. "Die US-Army hatte die Stadt bei ihrem Vormarsch Richtung Elbe zwar ausgespart, aber gleichzeitig abgeriegelt."
In dem Städtchen nahe Magdeburg herrscht in den letzten Kriegstagen NSDAP-Ortsleiter Gerhart Thiele. Als "Kampfkommandant" gebietet er über versprengte Reste von SS- und Luftwaffeneinheiten, dazu kommen Volkssturm-Männer, die überwiegend unbewaffnet sind. Nachdem es Häftlingen gelungen ist, aus dem unbewachten Zug zu fliehen, lässt Thiele die verbliebenen Gefangenen zusammentreiben und nach Gardelegen bringen.
Einer von ihnen ist Adolph Pinnenkämper. Der kommunistische Jugendfunktionär sitzt seit 1937 im KZ. Auf dem Weg nach Gardelegen sieht der 29-Jährige, wie Männer erschossen werden, nur weil sie stolpern. Andere versuchen zu fliehen und werden getötet. "30 SS-Männer und 50 Lager-Kapos", sagt er später US-Vernehmern, "bewachten etwa 2.000 Gefangene."
Als ein SS-Hauptscharführer die "Volksdeutschen" unter den Gefangenen auffordert, deutsche Uniformen anzuziehen, um bei der Bewachung zu helfen, meldet sich Pinnenkämper wie auch etwa 25 Mitgefangene. Und als gefragt wird, wer mit einem Gewehr umgehen könne, hebt er die Hand - in der Hoffnung, seine Chancen auf ein Überleben zu erhöhen. "Dann wurde uns gesagt", heißt es in Pinnenkämpers Aussage, "es sei besser, wenn man die Gefangenen töte, ehe irgendetwas Schlimmes passiert, wenn sie abhauen." Pinnenkämper steht Wache. Er empfängt Munition für sein italienisches Gewehr, von der er später behaupten wird, sie habe nicht gepasst.
Kampfkommandant Thiele hat genaue Anweisungen gegeben. Die Häftlinge werden in eine Scheune getrieben, die auf freiem Feld bei dem Ortsteil Isenschnibbe steht. Die Tore werden geschlossen. "Dann beschloss die SS, dass es das Beste wäre, wenn man Handgranaten in die Scheune wirft." Wer zu fliehen versucht, soll erschossen werden. 50 Handgranaten fliegen in das Gebäude, 20 Panzerfäuste werden durch das südwestliche Tor ins Innere geschossen. Drinnen wird geschrien, geweint, gestorben. Hundertfach. Tausendfach.
Draußen wird es langsam dunkel. "Ich hörte dann", berichtet Pinnenkämper, "wie zwei andere Gefangene in Uniform in die Scheune hineinriefen, ob dort noch jemand lebt." Sobald eine Antwort kam, hätten die beiden geschossen. Als der Morgen graut, sind 1 016 Gefangene tot, gerade mal zwei Dutzend haben das Massaker überlebt. Gerhart Thiele, der das Morden überwacht, befiehlt Leute aus dem Ort herbei, die die Toten in Massengräbern verscharren sollen. Unter den Männern ist auch der Holzfäller Arno Brake, ein Volkssturmmann, dem 59 Jahre später in der Auseinandersetzung um seine in Halle anonym vergrabene Urne vorgeworfen werden wird, er sei in Isenschnibbe zum Kriegsverbrecher geworden (die MZ berichtete).
Doch Schuld fragt in jenen Tagen nicht nach Lebensläufen. So passt die Bezeichnung Kriegsverbrecher nach Lage aller heute bekannten Fakten besser auf den Kommunisten Pinnenkämper. Zwar behauptet der im Verhör der US-Army, an der Scheune von Isenschnibbe keinen Schuss abgegeben zu haben. Überlebende wie der 26-jährige Ungar Aurel Szobel aber beschwören, Pinnenkämper habe mitgemordet, ja, Dutzende erschossen.
Am 2. August 1946 verurteilt ein sowjetisches Militärtribunal den gelernten Kellner aus Leipzig zum Tode. Die Strafe wird später in 25 Jahre Haft umgewandelt. Nach einer Akte, die jetzt im Bundesarchiv für die Stasi-Unterlagen gefunden worden ist, wird Pinnenkämper 1955 begnadigt und entlassen. NSDAP-Mitglied Arno Brake ist da schon vier Jahre tot, gestorben im Straflager Torgau. NSDAP-Kreisleiter Gerhard Thiele, der die Anweisung zur Ermordung der 1 016 Häftlinge gab, wird nie gefasst. Der Mann, der unter dem Namen Gerhard Lindemann in Bochum und Düsseldorf lebte, wird erst 1994 enttarnt. Wenige Wochen zuvor ist er im Alter von 85 Jahren als unbescholtener Bürger gestorben.