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Wendeherbst in Osterfeld Wendeherbst in Osterfeld: Im Tal der Ahnungslosen

Von Iris Richter 18.11.2019, 07:00
Gerd Seidel vor der Lutherkirche in Osterfeld, wo sich die Bürger am 7. November zur Versammlung trafen, um Missstände in der Stadt anzusprechen.
Gerd Seidel vor der Lutherkirche in Osterfeld, wo sich die Bürger am 7. November zur Versammlung trafen, um Missstände in der Stadt anzusprechen. Hartmut Krimmer

Osterfeld - „Über 500 Leute haben am 9. November vor 30 Jahren im damaligen Volkshaus in Osterfeld zusammengesessen und eigentlich nichts mitbekommen“, erinnert sich der Osterfelder Gerd Seidel heute schmunzelnd. Denn während damals der Volkszorn in der Kleinstadt hoch kochte und die Bürger lauthals über die Verbrechen der ehemaligen Partei- und Staatsführung sowie die Zustände in Osterfeld diskutierten (so steht es in der städtischen Chronik), fiel in Berlin die Mauer.

Schon seit dem Sommer 1989 hatte es auch im kleinen Osterfeld gegärt. Hier konnten die Menschen via Westfernsehen erleben, wie sich in Ungarn der Eiserne Vorhang öffnete. Denn in Osterfeld hatte sich schon zu DDR-Zeiten in den 80er Jahren eine Antennengemeinschaft gegründet, die nicht nur den Empfang des DDR-Fernsehens verbesserte, sondern auch das Westfernsehen auf die Mattscheiben holte.

Die Aktivitäten des Elektromeisters Horst Burkhardt

Durch die Aktivitäten des Elektromeisters Horst Burkhardt, der die ganze Stadt verkabelte, konnten selbst die Osterfelder, die im Tal wohnten, die Nachrichten aus der Bundesrepublik empfangen und bekamen im Herbst 89 mit, als die Leipziger im Oktober auf die Straße gingen. „Erstaunlicherweise gab es wegen des Empfangs von Westfernsehen nie Schwierigkeiten“, sagt Gerd Seidel.

Der heute 69-Jährige war zur Zeit des Mauerfalls 38 Jahre und arbeitete als Kunsterzieher an der damaligen Arthur-Becker-Oberschule in Osterfeld. „Ich bin in Osterfeld geboren, ich wollte nach dem Studium wieder hierher, mir wäre auch nie in den Sinn gekommen, in den Westen zu gehen. Ich persönlich habe mich nie unter Druck gefühlt. Für mich ist das Glas immer halb voll. Auch heute ist das so“, gibt der Osterfelder zu, der damals schon die Ortsgruppe des Kulturbundes, den Vorgänger des heutigen Heimatvereines , leitete und als Ortschronist fungierte.

Seidel ist heute Mitglied in der SPD

Trotzdem sei ihm natürlich die Unzufriedenheit der Leute nicht entgangen. Die Osterfelder ärgerten sich über die schlechte Versorgungslage, schlechte Straßen und kaputte Häuser und sie wünschten sich eine richtige Kaufhalle in ihrer kleinen Stadt.

Und weil Seidel, der heute Mitglied in der SPD ist, zu DDR-Zeiten sowohl der SED angehörte als auch Mitglied in der Kirche war, hatte er einen guten Draht zum damaligen evangelischen Pfarrer Konrad Rennecke und Interesse daran, dass sich etwas verändert. Und der Pfarrer hatte schon im Mai 1989 zu einem Gemeindeabend in die Kirche eingeladen, wo unter dem Motto „Der Weg der Kirche in die Zukunft“ auch solche gesellschaftlichen Dinge diskutiert wurden.

„Die erste größere Veranstaltung war proppenvoll“

„Die erste größere Veranstaltung hatte es in Osterfeld am 7. November in der Lutherkirche gegeben, die proppenvoll war“, erinnert sich Seidel. Der damalige Bürgermeister sei dort teilweise mit derben Sprüchen bedacht worden. Und einige Osterfelder, die nach Leipzig zu den Demonstrationen gefahren waren, hätten dort davon berichtet.

Nur einen Tag später sei dann die Initiativgruppe Osterfeld gegründet worden, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, gesamtgesellschaftliche und kommunale Probleme zu sichten und Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Auch hier stellte Pfarrer Rennecke in der Lissener Kirche Räume zur Verfügung.

Wie ein Lauffeuer, dass in Berlin die Mauer gefallen war

Und dann kam jene Versammlung im damaligen Volkshaus am Tag des Mauerfalls. „Als wir unwissend nach der Versammlung nach Hause kamen, sprach es sich in unserem Neubaublock wie ein Lauffeuer herum, dass in Berlin die Mauer gefallen war “, erinnert sich Seidel. Und er denkt dabei auch zurück an die ersten Fahrten in den Westen, um sich das Begrüßungsgeld abzuholen oder die ersten Einkäufe, die man von dem Geld tätigte.

Der Mauerfall und Seidels Mitwirken in der Initiativgruppe ließen ihn aber auch in die lokale Politik schwappen. Denn bei den ersten Kommunalwahlen 1990 erzielte die Bürgerbewegung Initiativgruppe Osterfeld (Bio) mit 1 640 Stimmen mehr Stimmen als alle anderen Parteien zusammen. Fortan arbeitete er im Stadtrat von Osterfeld mit, wurde vier Jahre später ehrenamtlicher Bürgermeister und hatte dieses Amt mit einer kurzen Unterbrechung bis zu seinem Eintritt ins Rentenalter inne. (mz)