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Wittenberg Wittenberg: Aus kindlicher Sicht war es mehr ein Abenteuer

Von UTE OTTO 27.10.2010, 18:17

WITTENBERG/MZ. - Vielleicht hat sie es verdrängt, vielleicht vergessen, wie man das Schlechte eben vergisst, vielleicht hat ihre Familie Glück gehabt, dass sie auf der Flucht aus der schlesischen Heimat nicht das Schlimmste erleben musste: "Uns kam das gar nicht so traurig vor", sagte gestern die Wittenbergerin Gisela Lukasczyk im Zeitzeugengespräch zur Ausstellung über Flucht und Vertreibung, die im Barockgebäude des Hauses der Geschichte zu sehen ist.

Sie war ja kaum acht Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter, Großmutter und Schwester das Dorf bei Breslau verlassen musste und überhaupt nicht einsehen wollte, dass sie in ihrem Schulranzen nicht Bücher, sondern Lebensmittel - am Vortag war noch ein Schwein geschlachtet worden - mitnehmen sollte. In doppelte Kleidung gemummelt mit alten Frauen und anderen Kindern auf dem Pferdewagen zu fahren, jeden Abend woanders zu sein, wo man manchmal sogar etwas zugesteckt bekam, das war schon abenteuerlich.

Jahrgang 1937 ist auch Horst Heck. Er stammt aus Ostpreußen. Als sie im Februar 1946 auf den Treck mussten, bei minus 30 Grad und bis zu 50 Zentimeter hohem Schnee, war die Familie schon zerrissen: Der Bruder 1939 von Polen festgenommen, die Schwester 1945 von Russen in den Ural verschleppt - sie kehrte nie wieder. Als Maria Zirnstein und Hagen Dorn vom Theaterjugendclub die Flucht der beiden Zeitzeugen schildern, kann sich Heck der Tränen nicht erwehren. Über Zwischenstationen landete er zunächst in Siersleben bei Magdeburg, bis er 1951 nach Wittenberg kam, wo er in der Färberei Naumann lernte.

Gisela Lukasczyk hatte derweil das Flüchtlingslager auf dem Flugplatz Pretzsch erlebt. Ihre Familie kam in Sackwitz unter. "Wir sind gut behandelt worden", berichtet sie, die Bürgermeisterin habe sie halbwegs auskömmlich mit Bezugsscheinen für Lebensmittel und Kleidung versorgt und der Mutter zu Arbeit verholfen. Sie selbst sei in der Schule ganz flink gewesen und konnte trotz langen Unterrichtsausfalls sofort in der dritten Klasse weiter machen, später zur Oberschule und zur Universität. Russischlehrerin ist Gisela Lukasczyk geworden. Von Integrationsproblemen - auch vor dem Hintergrund dieser Diskussion zeigt der Verein "Pflug" die 2004 konzipierte Schau jetzt noch einmal - berichten die beiden ebenfalls nicht. Klar, sie sprachen einen anderen Dialekt. "Aber wir waren ja nicht die einzigen Fremden", so Frau Lukasczyk. "Wir Kinder haben gespürt, nur wenn wir besser sind als die anderen, dann können wir uns durchsetzen. Unsere Eltern hatten keinen Schinken, den sie für die Lehrer mitgeben konnten", erklärte Heck. In der Abendschule hat er die 10. Klasse nachgeholt und den Meister gemacht. Vertreibung, Flucht, Integration und ein vierter Begriff wurde beleuchtet: Versöhnung.

Beide sind regelmäßig in ihrer alten Heimat zu Besuch, werden von den Bewohnern, die nach ihnen dorthin kamen, freundlich empfangen. Heck, der Hilfe für die dortige Feuerwehr organisierte, ist sogar Ehrenbürger von Skowrony.

Am 1. November, 22.05 Uhr, diskutiert Christel Panzig vom Verein "Pflug" in der MDR-Fernsehsendung "Fakt ist" mit über das Thema "Neue Heimat".