Westbesuch vor 30 Jahren Westbesuch vor 30 Jahren: Vor dem Grenzübertritt das Auto gewienert
Wittenberg - Ich habe damals in Eisenach gewohnt und im Automobilwerk gearbeitet. An den 9. November 1989 erinnere ich mich genau. Mein damaliger Mann hatte erfolgreich eine Klausur geschrieben, wir stießen darauf gerade mit Sekt an, als im Fernsehen Schabowski auftrat. An dem Abend sind wir nicht mehr losgefahren - kein Alkohol am Steuer. Am nächsten Tag war ich irgendwann dann die einzige im Büro. Mir war alles so ungeheuerlich. Wir können doch nicht alle weg, dachte ich. Aber mein Mann wollte unbedingt.
Er hatte den Wartburg schon gewaschen und auch meinen weiteren Einwand entkräftet, dass wir ja gar kein Geld hätten: Er hatte ein paar Kästen mit Pfandflaschen in den Kofferraum gepackt. Pfandflaschen, sagte er, gibt’s ja auch im Westen. Und so haben wir unsere Tochter abgeholt, sie wohnte in der Nähe der Autobahn, und sind los Richtung Frankfurt, da hatten wir Verwandtschaft.
Die Autobahn war voll. An der Grenze wurden wir wie alle mit Schokolade und Bananen abgefüttert. Und so kamen wir bis kurz vor Gießen. Im Supermarkt von Reiskirchen kam ein drollig gekleideter Mann auf uns zu, kurze Hosen und Sandalen, dabei war’s doch schon November. Als er unsere Geschichte hörte, fiel er aus allen Wolken, offenbar hatte sich der Mauerfall in dem Ort noch nicht herumgesprochen. Es stellte sich heraus, dass Herr S. der Marktleiter war. Er redete uns Frankfurt aus und nahm uns stattdessen zum Übernachten zu sich nach Hause, nach Gießen.
Dort hatte seine Frau schon den Abendbrottisch gedeckt. Die Brötchen waren anders als bei uns zu Hause, weniger fest. Am selben Abend nahmen uns die beiden noch mit zu einer Gewerbemesse, dort wurden wir wie Exoten behandelt - und waren anscheinend die ersten, die nicht in der Stadt bleiben wollten. Am nächsten Tag sollten wir aufs Sozialamt, das Begrüßungsgeld abholen, da wollten wir nicht hin, nicht aufs Sozialamt, haben wir dann aber doch gemacht.
Da war der ganze Saal schon voller Ossis. Von dem Geld haben wir Werkzeug gekauft, eine Bohrmaschine und so was. Auf dem Rückweg nach Eisenach kamen uns Autos über Autos entgegen. Als wir später ein Hotel gebaut haben in Eisenach, wurde Herr S. unser Getränkelieferant. Es ging nicht so toll aus. Und leider lebt Herr S. inzwischen auch nicht mehr. Ist ja alles schon 30 Jahre her...
Und jetzt: Wie war Weihnachten?
Schreiben Sie uns von Ihrem ersten Westbesuch und davon, was Sie mit Ihrem Begrüßungsgeld getan haben, hatte die MZ ihre Leser gebeten. Viele haben geantwortet, dank Internet auch Menschen, die keinen Bezug zu Wittenberg haben. Weil wir auch diese Beiträge für interessant halten, drucken wir sie mit ab. Die Aussagen protokollierte MZ-Redakteurin Irina Steinmann. Und möchte jetzt mehr wissen: Wie war Ihr Weihnachtsfest 1989? (Tel. 03491/45 88 34, Mail: [email protected]) (mz/irs)