Unfall in der Collegienstraße Unfall in der Collegienstraße: Ist die Fußgängerzone noch sicher?

Wittenberg - Fußgänger, die wegen vorbeirasender Autos lieber nah an der Hauswand gehen, Teilnehmer von Touristengruppen, die von Radlern angepöbelt werden, wenn sie genau dies nicht tun - und jetzt zu allem Überfluss auch noch ein kleines Kind, das von einem Lieferwagen erfasst wurde, all das geschieht in der Wittenberger Fußgängerzone.
Zum Glück wurde die Fünfjährige, die wie am vergangenen Montag berichtet mit ihren Eltern und einem Laufrad am Samstagnachmittag in der Altstadt unterwegs war, nur leicht verletzt - der Vorfall zeigt aber einmal mehr: Sicher können sich Fußgänger in ihrer Zone keineswegs fühlen.
Während sich die Polizei noch um die Aufklärung der Umstände kümmert, die am 4. März zu dem Unfall in der Jüden-/Ecke Bürgermeisterstraße führten - zu klären ist insbesondere die Schuldfrage (wer hat den Unfall verursacht und hätte sich dieser verhindern lassen?) und damit auch, ob hier ein Fall von fahrlässiger Körperverletzung, also eine Straftat, vorliegt - wirkt die Stadtverwaltung einmal mehr etwas ratlos.
Wie ist es um die Sicherheit in der Wittenberger Fußgängerzone in der Innenstadt bestellt? Wie konnte es dazu kommen, dass ein Lieferwagen ein fünfjähriges Mädchen in der Jüdenstraße an der Ecke Bürgermeisterstraße erfasste? Nicht nur für die Familienangehörigen, sondern auch für Einheimische und Passanten ist das ein großer Schock, der Unfall sorgt für Unverständnis.
„Wie können die Menschen nur so rücksichtslos sein?“ - eine Frage, die sich die Schülerin Jessica Ortholf aus Wittenberg stellt. Sie kann es nicht verstehen, dass in einer Fußgängerzone dutzende Lieferwagen rollen, die mit zunehmend hoher Geschwindigkeit andere Verkehrsteilnehmer und Passanten in Gefahr bringen. Sie findet es kritisch, wie schnell Fahrradfahrer in der Wittenberger Innenstadt unterwegs sind: „Diese fahren oft mit überhöhtem Tempo und sind schnell gereizt, wenn man sie mal auf ihre Geschwindigkeit hinweist.“ Vermeiden kann man ihrer Meinung nach die Unfälle nur, wenn jeder aufmerksam ist und - ein Appell an jeden Lieferanten - lieber etwas langsamer unterwegs ist.
Dieser Meinung schließt sich Gunther Hartwig aus Berlin an. Der Journalist, der zu Besuch in der Lutherstadt ist, fühlt sich sicher in Wittenbergs Fußgängerzone. Jedoch stören auch ihn die vielen Lieferwagen, die besonders zur Vormittagszeit sehr häufig unterwegs sind. Dennoch findet er es sehr überschaubar im Vergleich zu seiner Heimatstadt Berlin, wo es hektischer zugeht. „Die Menschen sind selbst für sich verantwortlich und müssen trotz einer Fußgängerzone immer den Verkehr im Auge behalten. Es darf jedoch nicht passieren, dass ein Kind zu Schaden kommt, weil ein Lieferant unaufmerksam war.“
Aber nicht nur Passanten, sondern auch Einzelhändler sind bestürzt. Lysann Werner, Mitarbeiterin im Modegeschäft „Carlos“ sagt: „Unser Laden ist auf die Anlieferung durch die Fußgängerzone angewiesen. Wir können keine Meisterleistung vollbringen, versuchen aber trotzdem unsere Waren binnen zwei Stunden auszuladen.“
Johanna Beimler aus der Christlichen Buchhandlung sieht hingegen auch die Eltern in der Pflicht: „Ich frage mich, ob das Kind hätte besser beaufsichtigt werden können.“ Beimler, die selbst mit dem Fahrrad durch die Wittenberger Innenstadt fährt, hat schon oft erlebt, dass Eltern mit ihrem Handy befasst sind, während ihre Kinder unbeaufsichtigt durch die Fußgängerzone laufen. Auch ihr sei es schon passiert, dass trotz Rücksichtnahme die Kinder dann vor ihr Fahrrad gelaufen seien.
„So etwas dürfte dort eigentlich nicht passieren und wir bedauern das“, so Sprecherin Karina Austermann zu dem aktuellen Unfall. Bereits Ende Januar hatte sie auf Nachfrage der MZ verstärkte Kontrollen seitens des Stadtordnungsdienstes angekündigt - und auch gemeinsame Streifengänge mit der Polizei.
Gemeinsame Streife mit der Polizei: Stadtordnungsdienst zählt 40 bis 50 Fahrzeuge pro Stunde
Letztere hätten noch nicht stattgefunden, jedenfalls nicht regelmäßig, räumte Austermann ein. Allerdings würde die Fußgängerzone von den eigenen Kräften inzwischen stärker bestreift - Austermann spricht von „fünf, sechs, sieben Mal“ pro Tag - und „wir wollen die Kontrollfrequenz erhöhen“.
Etwa zehn Verstöße gegen die Fußgängerzonenregelung vermelde der Stadtordnungsdienst pro Tag; da er nur für den „ruhenden Verkehr“ zuständig ist, handelt es sich dabei um Parker ohne und mit Einfahrtserlaubnis. Darüber hinaus melde der Stadtordnungsdienst der Polizei auch die Zahl der durchfahrenden Fahrzeuge, es seien „40 bis 50 pro Stunde“.
Das ist eine ganze Menge für eine Fußgängerzone, liegt freilich auch darin begründet, dass in der Wittenberger Fußgängerzone Lieferverkehr erlaubt ist, ohne zeitliche Einschränkungen. Daran will die Verwaltung auch nichts ändern. „Die Einzelhändler sind darauf angewiesen“, sagt Austermann.
Allerdings zeigt sich auch die Stadt unzufrieden mit dem Zustand in dem von ihr vor vielen Jahren eingerichteten Bereich, in dem Fußgänger immer Vorrang haben. In der Theorie. Die Praxis aber sei in der Tat „nicht so, wie wir uns das wünschen und vorstellen“, räumt Austermann ein.
18 mal gekracht in 2016: Unfälle werden mehr
Dass zu viele Autos - und viele davon wiederum zu schnell - in den Straßen der Altstadt herumfahren, hatte die Stadt bereits im Januar eingeräumt. „Es wurden vermehrt Überschreitungen festgestellt“, hieß es damals.
Die Unfälle in der Fußgängerzone zählt die Polizei. 18 Unfälle gab es ihr zufolge im vergangenen Jahr, 2015 waren es 16, 2014 noch zwölf. Mitgerechnet sind in dieser Statistik laut Sprecherin Johanna Schröder-Rimkus auch die Poller-Unfälle, allerdings gab es in den genannten drei Jahren jeweils auch zwei (Leicht-) Verletzte.
„Unfallhäufungsstellen“ innerhalb der Fußgängerzone bestünden laut Polizei nicht. Der lebhafteste Autoverkehr in Zahl wie Tempo dürfte nach allgemeiner Wahrnehmung unterdessen auf der Coswiger Straße stattfinden, gefolgt von der Jüdenstraße, die derzeit aber durch die Baustelle an ihrem östlichen Ende etwas ruhiger ist.
Im politischen Raum - der Stadtrat muss bei Änderungen an der Fußgängerzone einbezogen werden - nehmen die Akteure auf Anfrage kein Blatt vor den Mund. Die Fußgängerzone sei „vom Grundsatz her eine sehr gute Sache“, sagt Stefan Kretschmar, Fraktionschef der Freien Wähler und Radfahrer.
Aber: „Man sollte mal überprüfen, ob sich die Anliefernden an die Geschwindigkeit halten“, dies sei das „große Problem“. Im Übrigen lohne es, hin und wieder daran zu erinnern, dass - siehe oben - sich sämtliche anderen Verkehrsteilnehmer dem Fußgänger „unterzuordnen“ haben - ausdrücklich auch die Radfahrer.
Kretschmar persönlich spricht sich sogar für eine Erweiterung der Fußgängerzone aus, nämlich um den bisher noch nicht dazugehörenden Teil der Juristenstraße am Arsenalplatz, schon wegen des Wochenmarktes. „Vielleicht ist es an der Zeit, mal zu prüfen, was sich bewährt hat und was nicht.“
Ähnlich äußert sich Horst Dübner (Linke), der mit seiner Fraktion früher sogar einmal für eine Verkleinerung der Fußgängerzone geworben hatte. Davon will er jetzt nichts mehr wissen. 2017 komme eine Verkleinerung „auf gar keinen Fall“ in Frage, später einmal sei das vielleicht „denkbar“.
Gegenwärtig aber „wollen wir an dieser Fußgängerzone festhalten“. Dübner, der bereits früh vor möglichen Gefahren durch die Totalfreigabe des Lieferverkehrs 2010 gewarnt hatte, fordert verstärkte Kontrollen. Dito sein Stadtratskollege Reinhard Lausch von den Grünen. „Die Fußgängerzone muss durchgesetzt werden“, sagte Lausch der MZ. Sie abzuschaffen „wäre gerade in diesem Jahr tödlich“.
So weit ist es nicht. Allerdings berichten Stadtführer, die mit ihren Gruppen wie auch Individualtouristen verstärkt das Stadtbild prägen, dass ihre Kundschaft hie und da von wildgewordenen Radlern angepöbelt wird, die die „Straße“ für sich beanspruchen. „Ja, das ärgert mich“, sagt Stadtführerin und Katharina-Darstellerin Katja Köhler, auch weil es das blanke Gegenteil der vielbeschworenen Gastfreundschaft sei.
Vielleicht, schlägt sie vor, könnten die Radler ja statt der Touristenmeile Collegien-/Schloss-Straße die Coswiger nutzen? Was die Autos angeht, da gebe es zumindest ein paar neuralgische Punkte: Vor dem Cranach-Haus stelle sie sich samt Gruppe sicherheitshalber stets lieber auf den Marktplatz, sagt die Stadtführerin.
Unsicher, so Köhler, fühle sie sich mit ihren Gruppen in der Fußgängerzone aber nicht. Unsicher habe sie sich dort früher oft gefühlt - wenn sie mit ihren kleinen Kindern unterwegs war und dem Laufrad. Auch das jetzt angefahrene Mädchen hatte sein Laufrad dabei. (mz)