Günter-Grass-Tagung Thomas Brussig: Seine Sicht auf Günter Grass

Wittenberg - Am Ende wird es ein wenig skurril, da muss sich Thomas Brussig plötzlich verteidigen. Es geht um Christa Wolf, sie „nieder zu machen, ist schon mutig“, empört sich im Publikum Michael Stolle. Für ihn (wie für viele andere auch) gehörte die 2011 verstorbene DDR-Schriftstellerin zu den „Mutmachern in dem kleinen, grauen Land“ (Stolle). Wenig später sekundiert Reinhard Lausch mit Blick zum Podium: „Christa Wolf machen Sie mir nicht kaputt.“ Du liebe Güte! Der 1964 in Ostberlin geborene Brussig wirkt nun doch etwas überrascht. Er wolle Wolf niemandem „madig“ machen, sagt er. Aber jeder liest Bücher anders und ihm habe sie, Wolf, nichts gegeben. Er spricht von ihrer Rhetorik, an der ihn eins enorm zu stören scheint: „Da wird ein Stier nicht bei den Hörnern gepackt.“
Im geschützten Raum
Es ist Freitagabend und in der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg hat eine von Alf Christophersen vorbereitete und geleitete Günter-Grass-Tagung begonnen. Sie firmiert unter der Überschrift „Vonne Endlichkait“, so lautet auch der Titel von Grass’ letztem Buch, das 2015, nach dem Tod des 87-jährigen Literaturnobelpreisträgers erschienen war. Bis Sonntagmittag wird es um vieles gehen: etwa um Grass und die Staatssicherheit, seine literarische Kollegen und Konkurrenten oder um Grass und Willy Brandt. Jetzt aber geht es um Grass als öffentliche Person und Projektionsfläche. Letzteres sei Brussigs Idee gewesen, weil Grass für viele genau das war - nicht zuletzt um sich an ihm abzuarbeiten.
Mit dem Roman „Helden wie wir“ gelang Thomas Brussig 1995 der Durchbruch. Es folgte u. a. „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ (1999), der Stoff wurde von Leander Haußmann verfilmt. Zuletzt erschien 2015 der Roman „Das gibt’s in keinem Russenfilm“. Brussig, der die Filmhochschule „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg absolvierte und sich in seinen Büchern immer wieder auf ironische Weise mit der DDR auseinandersetzt, ist zudem als Bühnenautor tätig. Etwa schrieb er das Libretto für das Musical „Hinterm Horizont“. Er wurde mit etlichen Preisen ausgezeichnet.
Die Veranstaltung mit Brussig in der Evangelischen Akademie in Wittenberg bildete zugleich den Auftakt zu einer Günter-Grass-Tagung mit Teilnehmern etwa aus dem Rheinland, aus Bremen und Leipzig. Als Referenten hatte Akademiestudien- und Tagungsleiter Alf Christophersen neben anderen den Literaturwissenschaftler Martin Kölbel aus Berlin sowie Dieter Stolz, seit 2011 verantwortlich für das Grass-Lektorat des Göttinger Steidl Verlags, eingeladen. Zum Abschluss las am Sonntag der junge Schriftsteller Matthias Nawrat aus seiner deutsch-polnischen Familiengeschichte „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“. Am Dienstag, 8. März, lädt Christophersen zur nächsten Veranstaltung in die Evangelische Akademie ein. Um 19.30 Uhr geht es in einer „Sternstunde der Theologie“, so lautet der Titel dieses Veranstaltungsformats, um Franz von Assisi. (mz/cni)
Brussig selbst scheint insoweit nicht anfällig, was er über Grass sagt, ist erfrischend, weil es nichts mit Heldenverehrung zu tun hat, er auch gesteht, dass ihn Grass’ Bücher oft „ratlos machen“. Erstmals begegnet sei man sich 1995 zur Frankfurter Buchmesse, auf der Brussig seinen Roman „Helden wie wir“ präsentierte. Grass hatte das Manuskript gelesen, er habe sich „wirklich für das interessiert, was nachkommt“. Das zeigte sich später auch bei den ab 2005/6 von Grass mitinitiierten Lübecker Literaturtreffen. „Was er mit der Gruppe 47 erlebt hat, wollte er dort fortsetzen“, sagt Brussig. Junge Autoren sollten in einem „geschützten Raum“ erleben können, wie Texte wachsen, auch wollte Grass Erfahrungen weitergeben.
Von Christophersen befragt, ob er, der selbst ein „Spezialist für Ironie“ ist, ähnliches auch bei Grass findet, antwortet Brussig: „Mein Günter Grass ist ein Steinmetz.“ Da werde nicht fein gezeichnet, da sei „etwas Grobes“. Allerdings: „Unter der Hornhaut des Steinmetzes ist auch der Künstler.“ Später wird Brussig von seiner Bewunderung dafür sprechen, dass es Grass mit dem, was er sagte (und wie), praktisch immer auf irgendeine Seite 1 geschafft hat. Wiewohl da auch manches „Haarsträubende“ dabei war: „Da fiel es mir schwer, ihn noch zu verteidigen.“
Bei solchen Sätzen muss man zwangsläufig an Grass’ unsägliches Israel-kritisches Gedicht „Was gesagt werden muss“ denken. An seinem Ruhm gekratzt haben die zum Teil heftigen Reaktionen darauf indes nicht. Dass „Hass und Häme Grass nicht schaden“, findet auch Brussig. Doch schätzt er im Hinblick auf die Nachwirkung, „dass Grass noch nicht übern Berg ist“ und schiebt eine Frage nach: „Wie schnell war Heinrich Böll nach seinem Tod vergessen?“
„Alles hat seine Zeit“
Diesen angeblichen Bedeutungsverlust wollen Teile des Publikums ebenso wenig im Raum stehen lassen wie Brussigs Sicht auf Christa Wolf, zu der dieser übrigens von Gastgeber Christophersen befragt worden war. Und Brussig lenkt ein, es sei ja klar, dass diese Autoren zu ihren Lebzeiten „Stichworte gesetzt haben“. Und vieles wird bleiben, in Grass’ Fall, da ist Brussig sich sicher, wird das „Die Blechtrommel“ sein. Es finden sich aber auch Tagungsgäste, die Brussig zur Seite springen. Von einem „Generationsproblem“ spricht eine ältere Dame, Wolf und andere seien wohl doch eher „Begleiter meiner Jugend“. Dass alles seine Zeit hat, sagt Friedemann Ehrig.
Die Zeit mit Brussig ist gegen 20 Uhr vorbei. 120 interessante Minuten, in denen der Gast u. a. auch über das eigene Schreiben gesprochen und eine Episode vorgetragen hat aus seinem jüngsten Buch „Das gibt’s in keinem Russenfilm“. In dem existiert die DDR noch. Und auch Grass taucht auf. (mz)