Thilo Sarrazin Thilo Sarrazin in Wittenberg: Beifall statt Torten bei Vortrag

Wittenberg - Schon im Vorfeld rief die Veranstaltung, zu der am Dienstagabend ins Stadthaus eingeladen wurde, widersprüchliche Reaktionen hervor. „Der Rassist Sarrazin kommt am 07.06.2016 nach Wittenberg! 18:00 Uhr Stadthaus. Begrüßen wir den Herren richtig!“, postete ein unbekannter Verfasser auf der globalisierungskritischen Internetplattform linksunten.Indymedia.org.
Der Alternative für Deutschland (AfD), Kreisverband Wittenberg, war der Termin einen Hinweis wert: „Dies ist keine AfD-Veranstaltung. Wir denken aber, dass der Besuch dieser Veranstaltung durchaus lohnend sein wird“.
Keine Frage, an Thilo Sarrazin scheiden sich die Geister. Seit der 1945 in Gera geborene studierte Volkswirt sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlichte, ist das Verhältnis des SPD-Mitglieds zu seiner Partei zerrüttet und die Republik gespalten, was die Analysen und Forderungen jenes Mannes angeht, der als Finanzsenator in Berlin ebenso tätig war wie im Vorstand der Deutschen Bank.
Der Republik die Leviten lesen
Seit jener Veröffentlichung, die schnell zum Bestseller avancierte, ist Sarrazin in der Republik unterwegs, um ihr die Leviten zu lesen. Am Dienstag hielt er in der Lutherstadt einen Vortrag. „Zu lange hat die Politik versäumt, die wirklich wichtigen Fragen zu adressieren“, war die Veranstaltung überschrieben, zu der der Gastronom Dirk Teschner zusammen mit der Agentur „WortReich“ eingeladen hatte. Chef der in Nossen bei Dresden ansässigen Agentur ist Michael Sitte-Zöllner, Beisitzer im AfD-Mittelstandsforum in Sachsen.
Sozialdemokrat Sarrazin stellte die Thesen seines neuesten Buches „Wunschdenken“ vor. Auch diese rund 600 Seiten starke Abrechnung mit der politischen Kaste der Republik hat es im Nu auf Platz Eins der Bestsellerlisten geschafft. In Wittenberg fanden sich weit über 100 Neugierige ein, die bereit waren, 19 Euro im Vorverkauf oder 21 Euro an der Abendkasse hinzublättern, um den Analysen des Autors und dem von Jörg Michel moderierten Gespräch live zu folgen.
Nicken und spontaner Applaus
Es war ein durchweg wohlwollendes Auditorium, das Übereinstimmungen mit den Thesen des Redners durch zustimmendes Kopfnicken, bisweilen durch spontanen Applaus erkennen ließ. Weder Tortenwürfe, wie jüngst bei der Lesung in einer Düsseldorfer Buchhandlung, waren hier zu erwarten, noch anderweitige Provokationen.
Jedenfalls nicht aus dem Publikum und auch nicht von Seiten des Moderators. Als Mitbegründer der sächsischen Bekenntnisinitiative ist der studierte Theologe Repräsentant eines konservativ christlichen Weltbildes und geneigt, Sarrazin eher wohlfeile Stichworte zu liefern, als bohrende Fragen zu stellen. Der Autor selbst blieb sich freilich auch an diesem Abend treu. Sachlich in Gestus und Stimmlage, in der Sache indes starke Töne anschlagend, forderte er einmal mehr ein radikales Umdenken in der Flüchtlingspolitik. Da müsse man notfalls auch Lösungen wählen, „die robust sind“.
Gemeint war damit im konkreten Fall die konsequente Abschiebung abgelehnter Asylbewerber - mit Hilfe des Militärs. So könne man, wie Sarrazin findet, militärische Kapazitäten sinnvoller nutzen als bei den gegenwärtigen Auslandseinsätzen. Einwanderung mehre nur dann den Wohlstand einer Gesellschaft, wenn die Neubürger klüger seien als die vorhandene Gesellschaft. Das spricht Sarrazin jedoch den Flüchtlingen ab, die derzeit nach Deutschland kommen. Überhaupt gehe es nicht an, „dass Staaten ihre ungeregelten Probleme und ihren Bevölkerungsüberschuss bei uns abladen“. Die Zuhörer applaudierten.
Fakten und Zahlen?
Rein faktenbasiert nennt Sarrazin seine Analysen, und der versierte Redner weiß das reiche Zahlenmaterial aufzubereiten, so dass ein Szenario entsteht, in dem die deutsche Kultur und die deutsche Gesellschaft durch „Überfremdung“ sowie mangelnden Integrationswillen der Zugereisten gefährdet sind.
Sarrazin bekennt sich als Anhänger der offenen Gesellschaft, aber die Offenheit werde durch fremde Kulturen gestört. Die Muslime blieben unter sich, würden sich angesichts unzureichender Bildung im unteren Teil der Gesellschaft ansiedeln und damit der deutschen Unterschicht Konkurrenz machen. „Das möchte ich unserer Gesellschaft ersparen“, unterstrich er und erhielt einmal mehr Applaus.
„Fakten sagen gar nichts und alles“, so hatte es der Direktor der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg, Friedrich Kramer einmal bei einer anderen Veranstaltung mit Sarrazin formuliert. „Es kommt am Ende allein darauf an, was man mit den Fakten sagen möchte.“
Der Redner selbst sieht dies letztlich ähnlich. „Politische und gesellschaftliche Urteile gehen nicht ohne Wertungen“, formulierte er gleich zu Beginn. Die seinen hat er dargelegt. (mz)