Stadtgespräch Stadtgespräch: Die Jugend in Wittenberg sucht vor allem Perspektiven

Wittenberg - Das Raunen der Zuhörerschaft im Alten Rathaus war deutlich. Doch es war nicht unbedingt ein Zeichen von Unmut, von einem Jugendlichen ganz unverblümt dessen Meinung über die Stadt zu hören. Bewusst etwas überspitzt hatte Marcus Haberland vom Luther-Melanchthon-Gymnasium die jüngsten Umfrage-Ergebnisse unter Schülern kommentiert.
Vor allem, dass unter den befragten Gymnasiasten keiner eine berufliche Zukunft in Wittenberg sieht, sah er kritisch. Und er fragte, was nach 2017 bleibt. „Vielleicht herrscht in der Stadt nach dem Jubiläum Stagnation“, so seine Befürchtung.
Dann sei es logisch, dass Jugendliche, denen die Welt offenstehe, sich anderswo eine Perspektive suchten. „Und wenn mein Freundeskreis aus Wittenberg weggeht, folgt man natürlich“, sagte Haberland.
Vergleich mit früheren Ergebnissen
Dennoch wirkte Stadtplaner Wolfram Wallraf zufrieden, was die Umfragen in ausgewählten Bereichen zum „Leben in Wittenberg“ betrifft. „Ich denke, dass wir die Befindlichkeiten ziemlich gut erfasst haben“, meinte er bei der Vorstellung der jüngsten Umfrage-Ergebnisse im Rahmen eines Stadtgespräches.
Zwei Befragungen bilden die Basis für neue Ergebnisse und Perspektiven der Stadtentwicklung. Zum einen gab es 2015 eine Befragung zum „Leben in Wittenberg“ von 800 Haushalten in acht Bereichen der Stadt: Historischer Stadtkern, Lindenfeld, Gebiet am Trajuhnschen Bach, Piesteritz Werkssiedlung, Stadtrandsiedlung, Wittenberg West und die Ortsteile Pratau und Kropstädt. Diese geben, so Stadtplaner Wolfram Wallraf, einen repräsentativen Querschnitt durch alle Altersgruppen und Wohnsituationen. Zum anderen fand 2016 eine Befragung von Schülern des Luther-Melanchthon-Gymnasiums sowie der Sekundarschulen Friedrichstadt und Rosa Luxemburg statt. Es wurden 181 Fragebögen verteilt.
Die ausführlichen Berichte der Umfragen sind im Internet zu finden.
Bei den Haushalten war es 2015 bereits die dritte Befragung. Erstmals ergänzt wurden diese 2016 durch 181 Fragebögen, die an Schüler ausgegeben worden sind. Beide Auswertungen offenbaren nicht nur aktuell das Befinden der Bewohner, sondern lassen auch Rückschlüsse auf Veränderungen in den genannten Zeitrahmen zu.
Chris Luckau von der Sekundarschule Rosa Luxemburg hatte sein Statement etwas zurückhaltender vorgetragen. Auch er sah die beruflichen Möglichkeiten in Wittenberg eher skeptisch. „Dennoch gibt es viele Jugendliche, denen die Heimat am Herzen liegt“, betonte er auch mit Blick auf die Sanierung von Gebäuden und Straßen, die das Stadtbild zum Positiven verändert hätten.
Doch gebe es dafür zu wenige Klubs, und auch sportliche Aktivitäten seien nur dort möglich, wo die Stadt Plätze und Turnhallen vorhalte. Als wünschenswert erachtete er die Errichtung eines öffentlichen Bolzplatzes in der Nähe der Innenstadt.
Die Befragung der Haushalte, unter anderem zu Wohndauer, Miete, Modernisierungsbedarf, Treffpunkte für Bewohner in Wohngebieten, hatte Wolfram Wallraf zusammengefasst. Als angenehm werden viele Orte in der Stadt empfunden, etwa der Markt, der Tierpark und die Grünanlagen, der Stadtwald und das Elbufer.
„Da sind die Unterschiede zwischen den Haushalts- und den Schülerbefragungen oft gar nicht so groß“, fügte er hinzu. Die Bilanz der Stadtentwicklung sieht positive Seiten (Einkaufszentrum, Altstadtsanierung, neues Stadthaus), aber auch Kritikpunkte (fehlende Nordumfahrung, Schließung des KTC, fehlende Freizeitangebote, ungenügender öffentlicher Nahverkehr).
Vieles schon auf dem Weg
Die Fakten boten reichlich Stoff zur Diskussion im großen Sitzungssaal des Alten Rathauses, der etwa zu drei Viertel gefüllt war. Wittenbergs Bürgermeister Jochen Kirchner sah etliches auf einem guten Weg. Neue Industrie wie die Großbäckerei Lieken würden Arbeitsplätze schaffen, ein künftiges Wohnbaulandkataster soll den Bau von Wohnraum befördern. Oft im Weg steht die Finanzierbarkeit.
„In Sachen Steuereinnahmen steht die Stadt gut da. Grundproblem ist allerdings der Finanzausgleich zwischen den Ebenen Bund, Land und Kommunen“, bemängelte er, dass steigende Einnahmen vor allem bei letzteren nicht ankommen.
Für die Jugendlichen gab es aus der Runde etliche Tipps. Wolfram Wallraf machte deutlich, dass nicht nur die Industrie, sondern auch Verwaltungen und Dienstleister hochqualifizierte Arbeitsplätze bieten. Marco Glass vom Verein „Projektschmiede“ verwies auf das nicht mehr existierende Schülerparlament, das wieder aufleben könnte.
Schulleiter Michael Sandau brachte die Überlegung ein, dass man als Akademiker in Wittenberg wohnen, aber in Berlin oder Leipzig arbeiten könne. Die Idee, befand Marcus Haberland dankbar, sei ihm und seinen Mitschülern noch nicht gekommen. (mz)