Stadtführung in Wittenberg Stadtführung in Wittenberg: Ziegenkäse und Himmel

Wittenberg - 523 Jahre alt wäre Philipp Melanchthon am Sonntag geworden, doch es ist wahrlich kein Geburtstagswetter. Der Wind pfeift um die Häuser, als Michael Schicketanz alias Melanchthon mit wehendem Gewand und typischem Hut über den Schlossplatz auf die wenigen Gäste der Geburtstagsführung zueilt, die dem Wetter trotzen. In der Hand trägt er einen Koffer, aus dem er später allerhand Unterhaltsames und köstliches herausziehen wird.
Wehendes Tuch
Die Zeitreise beginnt an der „Thesentür“ der Schlosskirche. Hier hielt Melanchthon einst die Antrittsrede für seine Stelle als Professor. Ein Bild über der Tür zeigt ihn und Martin Luther unter dem gekreuzigten Christus. Das Tuch um Jesu Lenden scheint im Wind zu flattern, wie die Haare und Schals der Gäste. Das wehende Tuch weise auf Jesus Lebendigkeit hin, erklärt Michael Schicketanz. Lebendig geht es auch gleich weiter in die Cranach-Höfe, wo es Wittenberger Röhrwasser und Ziegenkäse auf selbstgebackenem Brot zu kosten gibt. Schließlich hatte Melanchthons Frau beim Kurfürsten durchgesetzt, nicht nur eine, sondern drei Ziegen halten zu dürfen, um die vielen Gäste, die ihren berühmten Mann besuchten, bewirten zu können.
Am Melanchthon-Denkmal auf dem Marktplatz hat bereits jemand Blumen für das Geburtstagskind hinterlassen. Die Gäste erfahren, dass Melanchthon das „Augsburger Bekenntnis“ schrieb, um dem Kaiser zu erklären, „was die Evangelischen wirklich wollten“ – Melanchthon hoffte nämlich auf eine Versöhnung mit den Katholiken.
Interesse für alles Leben
Das Dach über Melanchthon sei mit Sternen geschmückt, das über dem Denkmal Luthers nicht, bemerkt einer der Gäste. Melanchthon habe sich eben nicht nur für Theologie interessiert, erklärt Michael Schicketanz, sondern für die Astrologie ebenso, wie für alles Leben auf der Erde: Diejenigen, die „die […] herrlichen Gotteswerke, den weiten hohen Himmel, Sonne, Mond, Sterne, die ganzen Kreaturen, die Erde mit so vielen Blumen und mancherlei Gewächs“ nicht wertschätzen, sind „Säue und nicht Menschen“, meinte Melanchthon einmal – eine Aussage, die auch die heutigen Gäste zum Nachdenken bringt.
Mit allerlei Rätseln und Denkanstößen, die er aus seinem Koffer hervorholt, macht Michael Schicketanz an er Alten Lateinschule erlebbar, worum es dem einst so beliebten Lehrer Melanchthon ging: Seine Studenten sollten nicht unreflektiertes „Wissen“ anhäufen, sondern wirkliche Bildung erhalten.
Doch nicht nur für seine Schüler setzte sich Melanchthon ein, sondern unter anderem auch für wegen eines angeblichen Hostiendiebstahls verfolgte Juden. Als herauskam, dass die Hinrichtungen und Vertreibung der Juden zu Unrecht erfolgt waren, erreichte Melanchthon beim Kurfürsten, dass Juden in Brandenburg wieder leben und arbeiten durften.
Lied selbst gedichtet
Zum Abschluss führt Michael Schicketanz seine Gäste in die Fronleichnamskapelle neben der Stadtkirche. Geschützt vor dem pfeifenden Wind, stimmt er ein Lied an, dessen Strophen wohl Melanchthon selbst gedichtet hat. Es handelt vom „lebendigen Christus“, wie schon das Bild über der Thesentür.
Letztlich, meint er, sei es Melanchthon trotz seiner Liebe für die Bildung, nicht darum gegangen, alles wissen zu müssen: „Melanchthon hat eher auf Vertrauen auf Gott gesetzt.“ Bereichert und ins Gespräch vertieft, treten die Gäste wieder hinaus ins Hier und Jetzt der winddurchwehten Stadt.
(mz)